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Angelika Jo

Arbeit und Struktur (Wolfgang Herrndorf)

Empfohlene Beiträge

"Sätze, die Sie als Vollidiot zum Thema Tod unbedingt sagen müssen:

 

1. Der Tod ist ein Tabuthema in unserer Gesellschaft. Er wird von ihr an den Rand gedrängt.

2. Der Tod ist ein Bestandteil des Lebens.

3. Es weiß ja niemand, was danach kommt.

4. Ich habe keine Angst, ich weiß ja, was danach kommt."*

 

"Arbeit und Struktur" von Wolfgang Herrndorf – dies vorweg – ist kein Buch gewordenes "Autorenblog". Zwar erfährt man am Rande auch etwas über Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von "Tschick" und "Sand", aber darüber schreibt er ebenso beiläufig wie über sein armseliges Berliner Loch, in dem er fast bis zum Schluss gelebt hat.

 

Es ist ein Bericht über das Sterbenmüssen, über die schlimmste Form, nämlich durch ein ärztlicherseits überreichtes Todesurteil und darin die Gewissheit, dass es grausamer nicht mehr geht: Der Bericht behandelt also Epilepsie, Schizophrenie – die Selbsteinweisung in die Psychiatrie (im Pinguinskostüm – wenn schon, dann richtig) –, Bestrahlungen, Medikamente, Alpträume, Ärztesprech, Stalkerbesuche, allmählicher Verlust des Bewusstseins, der Orienteriung im Raum und der Sprechfähigkeit. Das alles schreibt einer, der mit der Sprache umgehen kann, es jedenfalls einmal konnte. Der nicht gerade jenseitsgläubig ist und darum ersucht, Priester womöglich mit Waffengewalt von sich fern zu halten. Der sich überlegt, wie er selber das Ende setzen kann und sich dafür eine Pistole besorgt (mit der er es dann auch geschafft hat, an einem "der letzten Tage, an denen er noch zu der Tat imstande war", wie Kathrin Passig im Nachwort schreibt).

 

Sterben hat die Besonderheit an sich, dass jeder es einmal erleben wird und hinterher nicht darüber berichten kann (finde ich). Hier schreibt einer über all das, was vorher passiert. Neben der Erschütterung, die mich dabei ergriffen hat, kann ich tatsächlich auch ein paar Erkenntnisse verzeichnen: Dass Empathie zum Beispiel nicht erwünscht sein kann, sondern den Betroffenen noch elender macht. Dass gegen das Elend nur Arbeit hilft, Arbeit und Struktur. Und wenn das nicht mehr geht, ein Rest von Sarkasmus:

 

"Ein großer Spaß, dieses Sterben. Nur das Warten nervt."**

 

* Wolfgang Herrndorf. Arbeit und Struktur. p. 438f.

** p. 401.

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

www.angelika-jodl.de

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Ich habe Herrndorfs Blog in Realzeit (mit)gelesen, fast vom ersten Eintrag an. Es ist ein wichtiges Dokument über das Schreiben und den dazugehörigen Antrieb, dies aber nicht im Kern. Es ist m.E. in erster Linie ein Manifest für das Recht am eigenen Leben (und Sterben), eine kritische Abhandlung über nicht wenige gesellschaftliche Aspekte, ein fortwährender, schmerzhafter Hilferuf und eine Studie über das Menschsein in den Nachmilleniumsjahren. Es geht so nahe wie kaum ein Text, den ich je gelesen habe, aber nicht etwa, weil es an Mitgefühl und Mitleid appelliert, sondern weil jede (Selbst-)Schonung fehlt, weil es unfassbar dramatisch, äußerst liebenswürdig, zerbrechlich, ehrlich, klug und auf unnachahmliche Weise direkt ist. Und völlig hoffnungslos, auf seltsam optimistische Art.

 

Herzlich,

Tom

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Ich weiss, wir sollen keine "Ich auch"-Postings schreiben, und ich habe diese Entscheidung seinerzeit unterstuetzt und tu's noch.

Trotzdem. Ich auch.

Moechte Toms Posting unterschreiben duerfen.

Charlie

"Der soll was anderes kaufen. Kann der nicht Paris kaufen? Ach nein, in Paris regnet's ja jetzt auch."

Lektorat, Übersetzung, Ghostwriting, Coaching www.charlotte-lyne.com

 

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Hallo,

 

ich habe zufälligerweise diesen Montag damit angefangen, und es ist ein Buch, das mich zutiefst berührt und phasenweise sprachlos macht. Es gibt Stellen, da möchte ich aufstehen und applaudieren für diesen Mut und Witz, den Herrndorf dem Sterben entgegensetzt, und es gibt Stellen (davon mehrere), bei denen mir zu weinen zumute ist.

 

Ich glaube, was dieses Buch so besonders, so einzigartig macht, ist die Tatsache, dass es uns Leser so direkt und unverschlüsselt mit dem eigenen Sterben konfrontiert. Wenn wir Herrndorf beim Sterben zusehen (und genau das ist es ja, das muss man einfach unverblümt so sagen), wird jegliche Hoffnung, ewig leben zu können, zerstört. Durch Herrndorf haben wir den Beweis, dass wir sterben müssen, dass nicht nur in Geschichten und Filmen und Songs gestorben wird, dass nicht nur unsere Verwandten und Freunde sterben müssen, sondern dass auch WIR irgendwann abtreten müssen. Denn während wir das Buch lesen, schlüpfen wir in Herrndorfs Haut - und das Ergebnis ist ja traurigerweise bekannt. Es ist also kein Sterben der Anderen, das wir lesen, sondern eine Spiegelung des eigenen Sterbens. Und das macht dieses Buch so aufwühlend.

 

Auch wenn ich selbst eher agnostisch eingestellt bin - für Wolfgang Herrndorf wünsche ich mir, dass es einen Himmel oder irgendeine andere Form des Danach gibt, und er es jetzt, wo auch immer, richtig gut hat und ordentlich einen draufmachen kann. Und dass er nettes Plätzchen für seine Leser reserviert.

 

Viele Grüße

 

Thomas

"Man schreibt nicht, was man schreiben möchte, sondern was man zu schreiben befähigt ist."&&- Jorge Luis Borges -

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Hallo,

 

ich hole diesen post noch mal hoch. Ich habe seinerzeit den Blog von Wolfgang Herrndorf auch in Echtzeit mitgelesen und jetzt gerade für eine Buchbesprechung, die ich schreiben durfte, auch sein unvollendetes Werk "Bilder deiner großen Liebe".

 

Ich möchte das Buch, wenn auch fragmentarisch und unvollendet, unbedingt empfehlen. Vor allem für die unter Euch, die "Tschick" gelesen haben. Es geht in dem Buch um die Isa aus "Tschick" und ich finde es ganz und gar zauberhaft.

 

SabineB

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