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Sabine

Der Protagonist als Täter

Empfohlene Beiträge

Hallo!

 

Ich arbeite an einem Plot, bei dem sich der Protagonist am Ende als Täter herausstellt. Der Leser hat es sozusagen mit einem unzuverlässigen Ich-Erzähler zu tun, weiß aber bis zum Schluss nicht, dass dieser selbst derjenige ist, der hinter allem steckt. Natürlich würde das ein schlechtes Ende bedeuten.

Ich frage mich, ob der Leser sich womöglich bei der Auflösung verarscht vorkommt und enttäuscht ist, dass es so endet. Natürlich säe ich im Romanverlauf kleine Hinweise, die dem Leser am Ende offenbaren, dass alles schlüssig ist. Trotzdem kann ich nicht einschätzen, wie der Leser reagieren wird.

 

Wie steht ihr dazu? Kennt ihr Bücher, bei denen die Thematik die selbe ist? Wie wurde es da gelöst bzw. wart ihr positiv oder negativ überrascht?

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Liebe Sabine,

 

ganz spontan fällt mir da "Alibi" von Agatha Christie ein (im Original "The Murder of Roger Ackroyd").

Als ich den Roman als Teenager zum ersten Mal gelesen habe, war ich von dem Ende fasziniert, weil es einerseits überraschend und trotzdem absolut logisch war.

Und nicht eine Sekunde lang habe ich ihr dieses Ende übel genommen. ;)

 

LG Yvonne.

Neu: "Rosenwein und Apfeltarte" Roman, Juni 2018

http://www.yvonnes-romanwelten.de

Mit wem das Pferd nie durchgeht, der reitet einen hölzernen Gaul (Friedrich Hebbel)

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ganz spontan fällt mir da "Alibi" von Agatha Christie ein (im Original "The Murder of Roger Ackroyd").

Als ich den Roman als Teenager zum ersten Mal gelesen habe, war ich von dem Ende fasziniert, weil es einerseits überraschend und trotzdem absolut logisch war.

Und nicht eine Sekunde lang habe ich ihr dieses Ende übel genommen. ;)

Genau! "The Murder of Roger Ackroyd" fiel mir auch sofort ein.

 

MIr ging es wie Dir, Yvonne, ich fand es auch ausgezeichnet aufgebaut und das Ende hat aus einem normalen whodunnit einen guten Krimi gemacht, der wirklich überrascht hat - positiv.

 

Ich habe das Buch Jahre später nochmal gelesen, weil ich mir auch mal als eine Option überlegte, dass der Protagonist gleichzeitig Täter ist. Die größte Herausforderung dürfte - damit man sich als Leser tatsächlich nicht veräppelt fühlt - die Formulierung der inneren Haltung des Protagonisten, die Beschreibung seines Innenlebens, sein.

Unser Gefühl weist uns immer das richtige Licht für unserer Lebensträume ...

und unser Verstand prüft die Machbarkeit!

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Ich denke mal der Protagonist muss sehr berechnend sein in dem was er denkt und tut. Wobei ich schon einen genauen Plan habe, wie es bei meiner Prota laufen wird - ob das funktioniert, werden mir Testleser dann schon sagen :-/.

 

Puh, bei Memento bin ich jedes Mal eingeschlafen. Er war mir irgendwie zu verwirrend. Vielleicht sollte ich ihm nochmal eine Chance geben und ihn mit anderen Augen ansehen.

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Mir gefallen grundsätzlich nur Ich-Erzähler, die dem Leser etwas über sich verschweigen. Das kann absichtlich geschehen oder einfach deshalb, weil der Ich-Erzähler sich selbst nicht richtig kennt. Das macht für mich erst den Reiz dieser Perspektive aus. Deshalb würde ich Dein Vorhaben mit einem JA in Versalien unterstützen.

Sagt Abraham zu Bebraham: Kann ich mal dein Cebraham?

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Hallo Sabine,

 

ein unzuverlässiger Erzähler ist immer sehr schwierig, weil der Vertrag Leser-Autor da einige heftige "Klauseln" hat. Bei einem Ich-Erzähler, der sich am Ende als Täter rausstellt, ist das sogar noch schwieriger. Zwingend ist in einem solchen Fall, dass dem Leser recht schnell klar wird, dass der Erzähler unzuverlässig ist und als Täter in Frage kommt. Eine Spannung bei solchen Texten gibt sich aus der Spannung: Hat er oder hat er nicht. Diese Spannung ist ziemlich schwierig zu halten ohne den Vertrag mit dem Leser zu halten- und dem Leser immer einen kleinen Vorsprung vor den Figuren zu lassen. Dazu ist enorm wichtig, dass deine Figur faszinierend ist, dass der Leser mitleidet, mitgeht und der Figur folgt.

Für einen unzuverlässigen Erzähler mit viel Charisma empfehle ich gerne die"Bartimäus-Triologie" von J. Stroud, einem der schillernsten Erzähler dieser Art. Einen wirklich gelungenen unzuverlässigen Erzähler und Täter habe ich bisher übrigens nicht gelesen.

 

Gruss

 

Thomas

"Als meine Augen alles // gesehen hatten // kehrten sie zurück // zur weißen Chrysantheme". Matsuo Basho

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Ich finde, es hängt von so vielen Punkten ab, ob das reizvoll sein kann oder nicht.

Wahrscheinlich geschah die Tat zu Beginn der Handlung und wir sehen zu, wie der Täter gejagt wird, ohne dass der Detektiv der Protagonist ist, sondern eine scheinbar unbeteiligte Person. Dann läge für mich sehr schnell der Verdacht auf dem Protagonisten - außer er würde selber vorgeben, den Täter zu suchen.

Liegt eine Gefahr in der Luft und wir sehen zu, wie diese Gefahr beseitigt werden soll und haben wieder den Polizisten nicht als Protagonisten, sondern z.B. eine der (vermeintlichen) Geiseln - das fände ich reizvoll, weil es einen Grund geben könnte, die Geschichte aus dessen Perspektive zu schreiben - um zu zeigen, wie sich ein Opfer fühlt (dass dann keines ist).

 

Dass der Protagonist der Täter ist, muss nicht unbedingt ein schlechtes Ende bedeuten. Das hängt von der Tat ab, ob man sie moralisch gut findet oder nicht, ob sie besonders schlau war (Oceans 11 - als Bsp. für ein intelligentes Verbrechen, nicht als Bsp. für einen Prota als Täter, der sich erst im SChluss herausstellt) oder sonst irgendwie reizvoll/nachvollziehbar.

 

Passt "Prestige"?? Wenn du den Film nicht kennst, dann erzähle ich dir jetzt gar nichts über ihn, außer: schau ihn an.

(und über die Diskussion in diesem Thread weißt du dann sowieso schon zu viel)

 

LG Ulrike

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In meinem Fall ist die Protagonistin diejenige, die den Täter sucht. Es ist ein Psychothiller, sie ist schizophren. In ihrer Vergangenheit liegt ein Vorfall, der dem Leser theoretisch vieles verrät, aber dadurch dass ich ihn an meine Protagonistin binde, die mit dem Vorfall abgeschlossen hat, stellt er sich auf ihre Seite. Zumal Dinge passieren, von denen man glaubt, dass es keine Einbildung sein kann, weil alles plausibel ist. Es liegt immer eine Gefahr in der Luft, weil sie sich bedroht fühlt und glaubt, jeder wäre gegen sie. Tatsächlich folgt sie einer Spur, die sie letztendlich zu einem Täter führt, doch am Ende hat sie alles, was während dieser "Reise" passiert, selbst zu verantworten. Der Mann, den sie beschuldigt, entlarvt sie. Auch wenn sie seine Unterstellungen abstreitet, weiß der Leser, dass er die Wahrheit sagt, weil im vieles klar wird. Da sie in ihrer Wahnwelt lebt, die sie durch den gefundenen Täter in Ordnung gebracht hat – was von Anfang an ihr Ziel und auch das des Lesers war – gibt es für sie tatsächlich ein gutes Ende. Zumindest in ihren Gedanken.

 

Gewagt, ich weiß, aber ich bin zuversichtlich, dass es funktioniert. Nur war ich mir eben nicht sicher, wie Leser so ein Ende beurteilen.

Bearbeitet von Sabine
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Der Leser hat es sozusagen mit einem unzuverlässigen Ich-Erzähler zu tun, weiß aber bis zum Schluss nicht, dass dieser selbst derjenige ist, der hinter allem steckt.

 

Also meines Erachtens funktioniert das in den allermeisten Fällen nur, wenn der Protagonist es selbst nicht weiß (bei psychischen Erkrankungen z.B.).

 

Bei "Memento" ist es doch so, dass er es selbst die ganze Zeit nicht weiß, oder?

Dann geht das.

 

Ansonsten würde ich mir als Leser komplett verar.... bei vorkommen.

Und dann noch in Ich-Perspektive, wenn ich das richtig verstehe.

 

Wir hatten die Diskussion in der Textkritik schon (bei dem Thriller mit den verschwundenen Jungen).

Darauf, dass die Figuren das denken, was sie auch wirklich denken - darauf sollte man sich als

Leser m.E. schon verlassen können. Gerade beim Protagonisten!

 

Wenn die Gedanken verfälscht werden, nur um den Leser zu täuschen, wird es schwierig.

 

 

Es gibt gerade einen aktuellen Psychothriller-Bestseller (ich sage jetzt nicht wer, sonst wird zu viel verraten), wo immer wieder aus der Sicht einer Figur geschrieben wird, wo sich dann am Ende rausstellt, dass sie über das Haupt-Verbrechen alles wusste.

 

Da gibt es aber vier Unterschiede zu deinem, wenn ich das richtig verstanden habe:

 

1. ist die Figur nicht der Protagonist.

 

2. wird die Figur hauptsächlich in einen parallel laufenden Fall eingebunden,

wo die Gedanken nicht verfälscht werden, weil die Figur über den Fall wirklich nichts weiß.

 

3. ist es keine Ich-Perspektive (aber auch in 3. Person fänd ich's schwierig).

 

Und 4. ist der Autor so erfolgreich, mit einer riesigen Fanschaft, dass er sich inhaltlich auch Sachen erlauben kann,

die sich andere Autoren so nicht erlauben könnten.

 

 

Also, ich würde entweder einen anderen Protagonisten nehmen, und die Figur, um die es hier geht,

nur als Nebenfigur auftreten lassen; oder es so machen, dass der Protagonist es selbst nicht weiß,

dass er der Täter ist. Aber wahrscheinlich hat das dann nicht mehr viel mit deiner Idee zu tun.

 

 

EDIT: @ Sabine: Unsere Postings haben sich überschnitten. Die Information mit der Schizophrenie wäre am Anfang gut gewesen.

Also weiß sie nicht, dass sie die Täterin ist? Dann kann das funktionieren, wenn es gut gemacht ist.

Bearbeitet von MichaelT
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Ja, dann ist das was ganz anderes.

 

Wenn das gut gemacht ist, kann das beim Psychothriller super funktionieren.

 

Paradebeispiel ist "Die Therapie" von Sebastian Fitzek.

Und da kam sogar noch hinzu, dass 90 Prozent der Handlung gar nicht wirklich passieren,

sondern alles nur die Wahnvorstellung des Protagonisten ist.

Das war Fitzeks erstes Buch - und es wurde ein Bestseller.

Bearbeitet von MichaelT
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"Angel Heart" fällt mir dazu ein (ich kenne aber nur den Film und nicht das Buch), ein Privatdetektiv, der am Ende sich selbst überführt. Geht allerdings in Richtung Horror. Und natürlich, sehr literarisch: Nabokovs "Lolita".

 

Als unzuverlässiger Erzähler geht meines Erachtens nur ein Ich-Erzähler, weil ein personaler Erzähler außerhalb der Erzählung steht und einen automatisch verarscht, wenn er Dinge erzählt, die nicht so waren, wie sie erzählt werden, oder Dinge verschweigt, nur um die Spannung aufrecht zu erhalten oder den Leser in die Irre zu führen. Ein Ich-Erzähler braucht einen Grund (Sinnestäuschung, Trauma, psych. Erkrankung) oder ein gutes, nachvollziehbares Motiv (will der Strafe entgehen oder anderes) für das unzuverlässige Erzählen, damit man als Leser die Täuschung hinnimmt und sogar schätzt.

 

Andreas

"Wir sind die Wahrheit", Jugendbuch, Dressler Verlag 2020;  Romane bei FISCHER Scherz: "Die im Dunkeln sieht man nicht"; "Die Nachtigall singt nicht mehr"; "Die Zeit der Jäger"

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Als unzuverlässiger Erzähler geht meines Erachtens nur ein Ich-Erzähler, weil ein personaler Erzähler außerhalb der Erzählung steht und einen automatisch verarscht, wenn er Dinge erzählt, die nicht so waren, wie sie erzählt werden, oder Dinge verschweigt, nur um die Spannung aufrecht zu erhalten oder den Leser in die Irre zu führen.

 

Das sehe ich anders. Auch bei einem Thriller mit einem Protagonisten in 3. Person erwarte ich als Leser,

dass er mich nicht komplett anlügt. Wird auch fast immer eingehalten.

 

Kleine Geheimnisse, und Auslassungen - okay, aber bitte kein Protagonist, der sich am Ende als Täter rausstellt (und auch weiß, dass er der Täter ist) und den Leser die ganze Zeit angelogen hat. Auch nicht in 3. Person. Kann mich beim Buch auch nicht an einen einzigen Thriller erinnern, wo ich so etwas gelesen habe.

 

Den Leser zu täuschen, und ihn auf die falsche Fährte zu locken, sollte man als Autor m.E. auch anders hinkriegen.

 

Aber, wie gesagt, da Sabines Protagonistin selbst nicht weiß, dass sie die Täterin ist, ist das was völlig anderes.

Bearbeitet von MichaelT
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Wobei es ja nicht heißt, dass der Protagonist den Leser anlügt, nur weil er ihm nicht alles sagt. Ich hab letztens einen Roman aus der Ich-Perspektive gelesen, wo eine der Protagonisten etwas im Schilde führte, aber man erfuhr nicht was, weil sie nur im Jetzt lebte und einfach nur das tat, was sie gerade tun musste, um ihren Plan zu verwirklichen. Zwar war das Ziel des Autors, dass man die Protagonistin als die Böse vermutet, aber andersherum könnte es ja auch funktionieren.

Aber ich denke auch, dass es schwierig ist, den Leser am Ende zu überraschen, wenn er ständig merkt, dass der Protagonist Dinge macht, bei denen er nicht erläutert, warum er sie tut. In der auktorialen könnte das dann eher funktionieren, weil man dann nicht die Motivation erfährt, die hinter den Handlungen des Protagonisten steckt, sondern man erfährt einfach nur, was er macht.

So oder so, ich find Ich-Perspektive auch reizvoller, weil man den Leser so schön als Ping-Pong-Ball missbrauchen kann und ihn in alle Richtungen dirigieren kann, allein durch die Gedanken des Protagonisten. Und keine Frage, man missbraucht auch die Erwartung des Lesers, denn der ist es gewohnt, dass er der Protagonistin vertrauen kann, erst recht, wenn alles plausibel anmutet.

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Ich hoffe doch sehr, dass das funktioniert - ich habe kürzlich sowas geschrieben ;)

Erscheint nächstes Frühjahr bei Lübbe.

 

Du musst mit der psychischen Erkrankung gut aufpassen. Schizophrenie ist etwas anderes; mit einer schizophrenen Figur wird das nicht aufgehen.

Eine dissoziative oder multiple Persönichkeitsstörung geht unter Umständen. Ich musste tricksen, damit es funktioniert: Meine Figur hat nicht nur diese Persönlichkeitsstörung - sie weiß auch bewusst nichts davon (was schon recht ungewöhnlich ist) und ich kombiniere mit einer ausgesrochen überdurchschnittlic ausgeprägten Fantasie, einem psychischen Trauma UND einem starken Motiv.

Sie weiß also unterbewusst, was sie tut, spielt sich aber selbst vor, es nicht zu wissen, weil sie keine anderen Lösungswege sieht.

 

Grundsätzlich habe ich beim Recherchieren gemerkt, dass Protagonist = (überraschender) Täter über psychische Erkrankung recht kompliziert wird, wenn man es realistisch haben möchte.

 

LG Jenny

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Ja, sie ist schizophren mit einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung und leidet zeitweise an einer kongraden Amnesie. Sie hat ein Trauma und ein starkes Motiv das auf ihrem größten Bedrüfnis beruht hat sie auch.

Du hast recht, es ist wirklich kompliziert, das alles realistisch hinzubekommen, ich hab schon sehr viel recherchiert und interviewt. Dass jemand alles in einem Wahn erlebt ist möglich, aber wie du schon sagst nur durch eine Persönlichkeitsstörung. Schizophrenie allein genügt nicht, weil schiziophrene wissen, dass sie einem Wahn unterliegen.

Bearbeitet von Sabine
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Belinda Bauer "Der Beschützer" ist - wenn ich mich richtig erinnere -in personaler Perspektive geschrieben und der Protagonist ist der Täter.

In der Geschichte verstreut finden sich dezente Hinweise, die man aber erst nach dem "Aha"-Ende genießen kann. Mir hat es gut gefallen, bei Amazon gibt es eher negative Bewertungen.

Liebe Grüße

Christiane

Bearbeitet von ChristianeL
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Als unzuverlässiger Erzähler geht meines Erachtens nur ein Ich-Erzähler, weil ein personaler Erzähler außerhalb der Erzählung steht und einen automatisch verarscht, wenn er Dinge erzählt, die nicht so waren, wie sie erzählt werden, oder Dinge verschweigt, nur um die Spannung aufrecht zu erhalten oder den Leser in die Irre zu führen.

 

Das sehe ich anders. Auch bei einem Thriller mit einem Protagonisten in 3. Person erwarte ich als Leser,

dass er mich nicht komplett anlügt. Wird auch fast immer eingehalten.

 

Kleine Geheimnisse, und Auslassungen - okay, aber bitte kein Protagonist, der sich am Ende als Täter rausstellt (und auch weiß, dass er der Täter ist) und den Leser die ganze Zeit angelogen hat. Auch nicht in 3. Person. Kann mich beim Buch auch nicht an einen einzigen Thriller erinnern, wo ich so etwas gelesen habe.

 

Den Leser zu täuschen, und ihn auf die falsche Fährte zu locken, sollte man als Autor m.E. auch anders hinkriegen.

 

Aber, wie gesagt, da Sabines Protagonistin selbst nicht weiß, dass sie die Täterin ist, ist das was völlig anderes.

 

 

Du meinst mit "3. Person" den Ich-Erzähler, Michael, oder? Also 1. Person? Dann stimme ich dir absolut zu: Auch ein Ich-Erzähler darf nicht alles einfach so erfinden und lügen wie es ihm gefällt und am Ende rufen "April, April!" Bzw. er darf es natürlich, aber was er erzählt, wird dadurch entwertet. Wieso sollte ich etwas lesen, bei dem auf nichts Verlass ist und es letztlich keine Regeln gibt? Ein unzuverlässiger Erzähler ist eine sehr, sehr heikle Aufgabe, die viel Fingerspitzengefühl erfordert, eine Gratwanderung mit permanenter, akuter Absturzgefahr. Ein personaler Erzähler darf den Leser jedoch aus dem gleichen Grund m. E. noch viel weniger täuschen, weil er tatsächlich eine Vertrauensinstanz ist, die Objektivität behauptet und dadurch einen Vertrauensvorschuss durch den Leser erhält. Hier bin ich persönlich echt pingelig und auch dogmatisch. Aber ich bin natürlich nicht der Maßstab. Der Masse der Leser sind solche "Feinheiten" eher wurscht, das beweisen die Erfolge von "Die Therapie" und anderen. Ich gönne den Autoren ihre Erfolge, aber klappe solche Bücher verstimmt zu, sobald die betrügerische Absicht ruchbar wird. Die Leser sind aber auch in anderen Dingen weniger streng. Deshalb, Sabine und Jennifer, macht euch keine Sorgen, wenn eure erdachten Konstruktionen mit der psychologischen Realität außerhalb eurer Bücher nicht ganz konform gehen: Ist die Geschichte in sich schlüssig und plausibel und vor allem spannend, goutiert der Durchschnittsleser es in der Regel. Und in diesem Fall finde ich es auch richtig, denn es geht um fiktionale Unterhaltung, nicht um psychologische oder psychiatrische Fallstudien.

 

Andreas

"Wir sind die Wahrheit", Jugendbuch, Dressler Verlag 2020;  Romane bei FISCHER Scherz: "Die im Dunkeln sieht man nicht"; "Die Nachtigall singt nicht mehr"; "Die Zeit der Jäger"

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Hallo Sabine,

 

lies "Der Kameramörder" von Thomas Glavinic, ein Krimi, der 2002 den Friedrich-Grauser-Preis gewonnen hat. Zu recht, wie ich finde.

 

LG

jueb

"Dem von zwei Künstlern geschaffenen Werk wohnt ein Prinzip der Täuschung und Simulation inne."  

AT "Aus Liebe Stahl. Eine Künstlerehe."

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Hallo zusammen,

 

die wichtigste Vereinbarung zwischen Leser und Autor ist, dass der Autor den Leser nicht anlügt- der unzuverlässige Erzähler ist der Einzige, der dies darf. Aber auch in diesem Fall gibt es ganz klare Grenzen: Er darf beschönigen, sich besser stellen, er darf etwas verheimlichen- er muss sich aber als unzuverlässiger Erzähler zu erkennen geben und der Autor muss an einigen Stellen die "Wahrheit" offen legen.

Den hier beschriebenen Fall finde ich extrem schwierig dem Leser zu vermitteln, weil so viele Dinge beachten werden müssen. Die klassische Kriminalhandlung muss nach und nach immer mehr Hinweise auf die unzuverlässige Erzählerin als Täterin bieten, während gleichzeitig immer stärker die Wahnvorstellungen als "Lösung" für die unzuverlässige Erzählerin ein für sie schlüssiges Ende erscheinen. Dabei bin ich mir nicht sicher, ob es ausreicht, dass dies am Ende aufgelöst wird- vielmehr denke ich, dass die Wahnvorstellungen immer wieder für den Leser Hinweise bieten müssen, dass es Wahnvorstellungen sind. Im Prinzip also das Dilemma von M. Night Shyamalan, der die meisten seiner Filme nach einem solcher solchen Wendung ausrichtet: Der Leser müsste beim zweiten Lesen des Textes Dutzende von Hinweisen auf das Ende im Text finden, die er vorher nicht wirklich wahrgenommen hat.

Zudem muss die Identifikation des Lesers mit der Figur funktionieren, auch wenn das alles kippt- die Figur muss ser vielfältig, sehr likeable und mit vielen verständlichen Geheimnissen konstruiert werden. Und als wenn das nicht schwierig genug ist, du benötigst eine erste Szene, in der all das schon klar ist, wenn der Leser den Anfang ein zweites Mal liest: Bspw. muss dein unzuverlässiger Erzähler in der erste Szene beim Arzt Medikation für seine wirkliche Krankheit bekommen und dies auf einen guten Grund zurückführen, der aber maximal Auslöser der Krankheit war. Und es muss einen deutlichen Hinweis geben, dass der unzuverlässige Erzähler genau das ist, in der ersten Szene. Anders formuliert: Das wird kein Thriller, sondern die Geschichte einer Krankheit. Das darf nur der Leser zuerst nicht wissen.

 

Ich würde überlegen, ob du den Roman nicht anders aufzäumst: Ich persönlich würde die Geschichte mit dem Ende beginnen- die Figur denkt, dass sie die Tat begangen hat und sie versucht die Tat aufzuklären, um sich selber Gewissheit zu schaffen. Im Zentrum der Geschichte steht der Fall und der Versuch des unabsichtlich unzuverlässigen Erzählers zu prüfen, was wirklich ist und was Wahnvorstellung. Das böte am Ende jede Menge Raum für den legendären "Twist", also wer war es wirklich (Figur, andere Figur, Verschwörung) oder ob es die Tat wirklich gab. Du könntest die Krankheit für sehr spannende Twists in der Geschichte nutzen, denn wenn man sich Verschwörungen einbildet, bedeutet dies ja nicht, dass es nicht auch eine gegeben hat. Und du hättest die Möglichkeit sehr tief in die Psyche dieser Figur einzusteigen.

So würde der Leser mit der Figur alles entdecken, und das unzverlässige wäre viel stärker ein Spannungselement, genau wie die Sorge der Figur um die Krankheit, die Tat und alles andere.

 

Spannende Sache, alles beide, bloß sehr, sehr schwierig zu schreiben.

 

Gruss

 

Thomas

"Als meine Augen alles // gesehen hatten // kehrten sie zurück // zur weißen Chrysantheme". Matsuo Basho

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Dieses Risiko gehe ich ein, Thomas. Und ich hab vieles von dem, was du an Überlegungen geschrieben hast, auch in meinem Roman drin. Es gibt auch Momente, wo sich der Leser fragen wird, ob das alles so stimmt. Aber dann passieren wieder Dinge, die keinen Zweifel zulassen und für meine Protagonistin sprechen.

Es ist schön, dass du das ansprichst, denn ich glaube mich damit auf einer Gradwanderung und hab Sorge, dass das Ende für den Leser nicht mehr überraschend kommt, weil ich hin und wieder diese tatsächliche Wahrheit durchschimmern lasse.

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Hallo Sabine,

 

das große Geheimnis bei dieser Gradwanderung ist die Dynamik der Szene und besondere Techniken. Hier ein paar Ideen:

1. Der Heilige Gral: In the Sixth Sense gibt es die Szene, bei der Bruce Willis im Restaurant mit seiner Frau sitzt und mit ihr spricht. Sie antwortet nicht, sondern wirkt sehr unglücklich. Die Szene ist der "Heilige Gral", weil die Aussage erst durch das Ende gedreht wird. 

Im Prinzip handelt es sich um Szenen, die scheinbar zum Bild der eigentlichen Geschichte gehören, aber mit dem geeigneten Wissen eine ganz andere Geschichte erzählen. Bei einer multiplen Persönlichkeit könnte deine Figur der die Spur von einer anderen ihrer Persönlichkeit sein, und es könnte einen Hinweis darauf geben, dass es die gleiche Person ist- indem das an einer anderen Stelle erst angedeutet, dann gezeigt wird. Ein Beispiel wäre eine Szene, wo deine Figur beim Psychiater ist, der sie auch in der anderen Persönlichkeit gesehen hat, und ihr das auch sagt. Was aber an dieser Stelle so gedeutet wird, dass deine Figur der Mörder sein könnte, aber eigentlich auf die andere multiple Persönlichkeit verweist.

2. Versteckt in der Dynamik der Szene: Eine andere Variante ist die Dynamik der Szene: Die Wahrheiten werden dort versteckt, wo die Leser nicht danach suchen und nicht so aufmerksam lesen- z.B. in den Beschreibungen, oder im retardierenden Moment, nicht im Höhepunkt oder der Ausleitung.

3. MacGuffin: Eine weitere Variante ist der MacGuffin, also Objekte oder Personen, die die Handlungen voran treiben, ohne selbst von besonderem Nutzen zu sein. Hier soll er vom eigentlichen Geheimnis ablenken.

4. Die multiple Persönlichkeit: Schreibe einfach einige Szenen scheinbar aus der gleichen Perspektive, aber mit einer in vielen Details unterschiedlichen Sichtweise, andere Handlungen,... Die Idee ist es die Szenen aus Sicht einer anderen Persönlichkeit deiner Figur zu zeigen, mit auffälligen Unterschieden, die bestimmte Handlungen zeigt- und am Ende zu drehen. Damit verbunden sind Andeutungen: So etwas würde sie nicht tragen, das würde sie machen, oder dein Figur weiß in einer späteren Szene nicht mehr davon.... Und hier kommt der Widerspruch, aber mit der Ergänzung: Ich mache das nur, weil... (Und die Begründung klärt sich scheinbar durch die Ergebnisse, wird aber am Ende gedreht).

 

Gruss

 

Thomas

"Als meine Augen alles // gesehen hatten // kehrten sie zurück // zur weißen Chrysantheme". Matsuo Basho

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