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Titus

Individualität vs. Handwerk

Empfohlene Beiträge

Ihr Lieben,
 

ich habe meinen Lektor für zwei Events dieses Jahr gewinnen können (das Autorentreffen in Nürnberg, und ein Seminar in Brixen zum Thema: Spannung und das "gewisse Etwas" im Unterhaltungsroman). Weil wir das Seminar in Brixen gemeinsam halten, gab er mir kürzlich einen Text von sich zu lesen, den er in der Vorbereitung darauf verfasst hat. Ich finde seine Marktbeobachtung hochspannend und wollte das mit euch teilen. Bin neugierig, wie ihr die Sache seht!
 

Edgar Bracht (Blessing Verlag) zu aktuellen Entwicklungen im Markt:

"Das Verhältnis zwischen Planung des Plots, der Figuren, des Zeitraums einerseits und einer gewissen Offenheit und Phantasie in der Darstellung und der Entwicklung der Figuren ist nach meiner – sicher subjektiven – Wahrnehmung in den letzten Jahren aus dem Lot geraten: Und zwar zugunsten der Planung, des Handlungsablaufes, der vorab festgelegten Konflikte, zuungunsten der Phantasie.

 

Ich schließe das aus folgender Wahrnehmung.

 

Früher: Der Verlag erhielt sehr viele dilettantische und distanzlos autobiographische Texte, die wenigen Manuskripte aber, die durcharbeitet, durchdacht waren, hatten es dann oft in sich, waren ernsthafte Kandidaten fürs Verlegtwerden.

 

Heute: Der Verlag erhält sehr viele Romane, die solide erzählt sind, mit einem gut durchdachten Handlungsablauf, ein kontrastreiches Romanpersonal mit Protagonisten und Antagonisten haben – und die dennoch nicht auf eine Veröffentlichung drängen. Korrekte, aber nicht mitreißende Prosa. „[solche Prosa] zeichnet sich dadurch aus, dass sie keine Fehler macht.“ (Ulrich Greiner, Standbilder eines Chronisten, Erst lesen. Dann schreiben, S. S. 64) Hat der Literaturkritiker (zum Teil) recht?

 

Die Individualität eines Autors kann nur in dem Überschüssigen bestehen, in dem, was nicht den handwerklichen Regeln entspricht. Um jenes von Forster so bezeichnete sumpfige Romangelände zu kreieren und zu durchmessen, braucht es eine Erzählenergie, einen Willen, beim Erzählen immer Neues zu entdecken und nicht nur starr eine Route zu verfolgen. Abschweifungen, Erfindungen, Ausschmückungen können den Roman verwässern, aber ohne sie wirkt er unbelebt trocken, vorhersehbar.

 

Der Romanautor muss also sein individuelles Weltwissen in den Roman einfließen lassen. Das lässt sich nicht auf Knopfdruck bewerkstelligen. Das kann er nur, wenn er aus einem gewissen Fundus schöpfen kann: Notizen, kurze, aber bestimmte Sinneseindrücke, die nur er/sie hat, sind unabdingbar. In solchen Notaten kommen der besondere Instinkt, die subjektive Prägung eines jeden Autors besonders gut zutage. Außerdem schärfen sie die Fähigkeit, spontan zündend zu formulieren."

Wir sind als Autoren ja selbst auch Leser. Geht es euch wie ihm, stört es euch, dass die Abschweifungen und das Persönliche im Roman abhanden kommen? Gehen wir derzeit zu handwerklich ans Schreiben heran?

Mal angenommen, er hat recht. Wie kommt es zu der Entwicklung? Liegt es am großen Einfluss des Films, der klare Federstriche braucht und Abschweifungen schlecht verkraftet, und an den wir uns im Roman annähern, von dem wir Techniken übernehmen? Oder liegt es daran, dass wir – oft gezwungenermaßen und aus wirtschaftlichen Gründen – zu schnell zu viel schreiben und gar nicht die Zeit bleibt für spielerische Beobachtungen?

 

Mich hat seine Aussage ins Grübeln gebracht. Wüsste gern, was ihr zu dem Thema denkt.

Herzlich,

Titus

 

Was hat Putin 1985-1990 in Dresden gemacht? Einige Einblicke und ein Trailer zum aktuellen Roman "Der letzte Auftrag", gedreht vor der ehemaligen KGB-Villa dort.

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Bettina Wüst

Eine interessante Betrachtung und Frage, Titus, die ich gerne mit euch diskutieren möchte.

 

Generell denke ich, dass es viele, viele Romane gibt, die eine Haltung, einen Willen und eine eigene Betrachtung oder Stimme aufweisen. Nur, es gibt heute solch eine Vielzahl von Veröffentlichungen geschulter Autoren, dass man das Gefühl haben könnte, diese Fähigkeit wäre verloren gegangen.

Ist sie nicht.

Bei der Vielzahl der veröffentlichten Bücher ist erkennbar, dass Autoren sich in der Vergangenheit viel intensiver mit Struktur befasst haben. Zum einen, weil es inzwischen sehr viele Fortbildungsmöglichkeiten für Autoren gibt, zum anderen, weil wir uns heute viel mehr mit dem Medium Film und seiner ökonomischen Erzählstruktur beschäftigen. Wir  konsumieren erheblich mehr Kinofilme und Serien, und Prosaautoren haben die dramaturgischen Werkzeuge des Films entdeckt. Das kann zu dem Phänomen der „korrekt“ geschriebenen Romane führen, sofern man den Fokus nur auf die erlernte Struktur legt.

 

Nicht vergessen darf man Eingriffe seitens des Lektorats, das Geschichten ja auch gerne mal auf einen gemeinsamen Nenner bürstet. Gegen den Strich, also gegen das Eigene und Unverwechselbare,  ist oft nicht erwünscht. Etwas Unverwechselbares wird oft verlangt, gedruckt wird dann doch eher me-too.

 

Das mag auch zu vorauseilendem Gehorsam des Autors führen, der all diese Argumente durch eigene Erfahrung oder Austausch in den immer zahlreicher werdenden Netzwerken berücksichtigt. Am fatalsten halte ich den immer wieder zu hörenden Ausspruch „die Figur muss sympathisch sein, sonst kann sich der Leser nicht mit ihr identifizieren“. Das ist schlichtweg falsch, und es gibt dermaßen viele Beweise für diese Falschaussage, dass ich sie gar nicht einzeln belegen möchte. Ich denke, dass hier auch oft missverständlich argumentiert wird, und dass sich hinter dieser Aussage etwas anderes verbirgt. Identifikation entsteht nicht, weil man so sein möchte wie die Figur oder weil man sie toll finden muss, aber ihre Gefühlswelt sollte nachvollziehbar sein. Das wird sie nur, wenn der Autor seine Figur genügend durchleuchtet, sie versteht und liebt, auch die bösen Buben und die bösen Mädels.

 

Egon Bracht erwähnte die Krux der „vorab festgelegten Konflikte“. Wer den Handlungsablauf und damit einhergehend die Wendepunkte einer Geschichte rein dem Plot entlang entwirft (also nur darauf achtet "hier muss was passieren, ein Wendepunkt muss her usw.), wird das auf Kosten der Lebendigkeit einer Geschichte tun. Die Lebendigkeit und Unverwechselbarkeit einer Geschichte hängt aber nicht nur vom „Was“ ab, sondern auch vom „Wer und wie“ ab. Wer sich also mit Verve und Hingabe seinen Figuren widmet, auch in ihre Abgründe eintaucht, legt die Konflikte nicht vorab fest, sondern leitet sie zwingend aus der Persönlichkeit und den Erfahrungen seiner Figuren ab. Dieses Abtauchen in Gründe und Abgründe bedeutet für den Autor ja auch immer, die eigenen Gründe und Abgründe zu erforschen. Und somit landen wir wieder bei der Haltung, der Individualität des Autors vs. Handwerk.

 

Diese Aussage hier möchte ich hinterfragen:

 

Abschweifungen, Erfindungen, Ausschmückungen können den Roman verwässern, aber ohne sie wirkt er unbelebt trocken, vorhersehbar.

 

Sie greift meinem Empfinden nach zu kurz. Ich glaube nicht, dass Ausschmückungen einen Text beleben und unvorhersebar, sprich: besser machen.

 

Hingegen bin ich sehr mit dieser Aussage einverstanden:

 

Der Romanautor muss also sein individuelles Weltwissen in den Roman einfließen lassen. Das lässt sich nicht auf Knopfdruck bewerkstelligen. Das kann er nur, wenn er aus einem gewissen Fundus schöpfen kann: Notizen, kurze, aber bestimmte Sinneseindrücke, die nur er/sie hat, sind unabdingbar. In solchen Notaten kommen der besondere Instinkt, die subjektive Prägung eines jeden Autors besonders gut zutage. Außerdem schärfen sie die Fähigkeit, spontan zündend zu formulieren."

 

Ich möchte frenetisch nicken. Auch die Haltung des Autors zum Thema, seine Erfahrungen und Beobachtungen spielen eine Rolle. Ich wage zu behaupten, dass man es einem Text anmerkt, ob da jemand entlang seiner eigenen Haltung, seiner eigenen Wahrheit oder dem Plotgerüst entlang schreibt. Was Romane mir fremder Autoren betrifft, so bleibt das natürlich eine Vermutung, aber im Coaching spüre ich, ob ein Autor von innen nach außen schreiben oder ob es beim Abhandeln der Figuren und der Dramaturgie bleibt. Nicht umsonst umkreisen wir sehr lange die Punkte „Thema“ und Ansichten, Erfahrungen des Autors. Und oft tritt das wahre Thema des Romans erst ins Rampenlicht, wenn wir uns eingehend mit dem Innenleben und der Weltsicht des Autors befasst haben.

 

Wer also die eigene Sicht auf die Welt im allgemeinen und die Romanwelt sowie deren Figuren im spezifischen außen vor lässt, sich nur auf Struktur und Planung verlässt, der läuft Gefahr, einen korrekt geschriebenen Roman zu schreiben. Dem der Funke und das Funkeln fehlt. Das wäre dann tatsächlich gutes Handwerk auf Kosten der Individualität. Gut finde ich hingegen Individualität PLUS Handwerk, nicht versus.

 

LG, Bettina

Bearbeitet von Bettina Wüst

" Winterschwestern" (AT)
Figuren- und Storypsychologie

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Diana Hillebrand

Lieber Titus, 

 

ich kann sehr gut nachvollziehen, was dein Lektor meint. Ich fühle mich sogar selbst angesprochen, weil ich ja seit vielen Jahren Schreibkurse gebe. Darin vermittle ich ja so etwas wie das "Handwerkszeug", wenn man so will. Und ich erlebe Kursteilnehmer, die das dann wunderbar umsetzen können und eine Geschichte sehr gut strukturieren und alles. Auf den ersten Blick also alles wunderbar. Manche suchen regelrecht nach einer Art Generalanleitung zum Schreiben eines Romans. Doch die gibt es nicht und ich rate auch allen davon ab, so etwas zu suchen. Es ist sicher gut, wenn man weiß was man tut. Aber ich finde es ebenso wichtig, es laufen zu lassen und nicht alles auf dem Reißbrett zu entwickeln. 

Mir hat mal eine Lektorin gesagt, es gäbe viele solide Schriftsteller, aber sie freue sich immer dann, wenn sie einen besonderen "Schmelz" in der Sprache und in den Texten erkennen könne. 

 

Liebe Grüße 
Diana 

Bearbeitet von Diana Hillebrand
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Schönes Thema, das mich schon länger beschäftigt!

 

Ich nenne das für mich "die zu braven Bücher".

Alles richtig gemacht - und trotzdem fesseln sie mich als Leserin nicht.

Aber ich bin sehr anspruchsvoll, ich will jedes Mal möglichst was Neues, einen interessanten Blickwinkel auf ein Thema, verrückte Sprache, was weiß ich.

Gleichzeitig hänge ich aber doch an Plots, denen ich folgen mag. ;-) Also zu wenig Handlung mag ich auch nicht.

 

Aus schreibender Sicht habe ich bemerkt, dass ich nach den ersten paar Büchern weit lockerer an alles rangehe und wohl doch sowas wie spinnert bin - oder mich spinnen lasse ;-) - während des tatsächlichen Schreibens. Ich plane ein wenig vorab, sehr grob im Exposé, schmeiße dann manches Detail wieder um, wenn ein besseres daher kommt.

Autorin | Ein  Buch schreiben

Das Leben ist zu kurz für schlechte Bücher

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Die Individualität eines Autors kann nur in dem Überschüssigen bestehen, in dem, was nicht den handwerklichen Regeln entspricht. Um jenes von Forster so bezeichnete sumpfige Romangelände zu kreieren und zu durchmessen, braucht es eine Erzählenergie, einen Willen, beim Erzählen immer Neues zu entdecken und nicht nur starr eine Route zu verfolgen.

 

 

Diese Aussage halte ich für einen konstruierten Widerspruch, der mehr oder minder für den gesamten Beitrag gilt. 

Die Individualität eines Autors kann eben NICHT nur in dem Überschüssigen bestehen, sondern durchaus in seiner persönlichen Art, in der er handwerkliche Regeln anwendet oder z. B. auch bewusst Konventionen durchbricht. 

 

Handwerkliche Regeln zu beachten (und auch sie wissentlich zu brechen, um einen entsprechenden Effekt zu verursachen) führt niemals auf eine starre Route - sonst wären ja alle Liebesgeschichten logischerweise identisch. Werkzeug und Holz sind handwerkliche Instrumente. Was man daraus schafft: jedes Stück ein Original. 

Daher stimmt in meinen Augen die Prämisse dieses Textes nicht.

 

Schöne Grüße,

 

Holger

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Auf Musikalisches umgesetzt: Eine C-Dur Tonleiter ist eine C-Dur-Tonleiter. Damit kann man Großartiges schaffen, eine Fuge entwickeln, eine Improvisation, einen Blues (mit Hinzufügen einer einzigen Note) oder eben alle meine Entchen spielen. Die C-Dur Tonleiter ist schon lange allen zugänglich, vom ersten  Blockflötenunterricht in der Schule an. Anscheinend sind  aberDramaturgie-Regeln oder ein gewisses Handwerkszeug beim Schreiben (hier: von Unterhaltungsromanen) hierzulande noch nicht so lange allen zugänglich. Deshalb die klaffende Lücke aus früheren Zeiten zwischen Unbrauchbarem und Kunstnahem/Kunstvollem. Und jetzt wundert man sich also, dass es nicht reicht, wenn man die Regeln einfach nur anwendet. (Abgesehen davon, dass man in vorauseilendem Gehorsam Forderungen der Verlage oder LeserInnen erfüllt, was mit Kunst nichts mehr zu tun hat, egal, wie gut man die C-Dur-Tonleiter des Schreibens beherrscht.)

Die Annäherung an das Medium Film kommt dazu, man vergisst - habe ich den Eindruck - dass es beim Schreiben um Sprache geht. Ist mir fast peinlich, das hinzuschreiben, wird aber tatsächlich oft vergessen. Von Anfängern, die einfach nur beschreiben, was sie im "Kopfkino" sehen, ohne Rücksicht auf Zeitformen, Grammatik, Rechtschreibung, als auch von Profis oder angehenden Profis, wo zwar das Äußere stimmt, eine gewisse antrainierte Sprache, saubere Perspektive, erlernte Figurenpsychologie, wo aber der in weitestem Sinne innovative Umgang mit der Sprache eben fehlt. (Kann sein, dass sich aus Ich beschreib euch mal einen Film eine neue Kunstform entwickelt, wer weiß, ich glaube nur, es ist noch nicht soweit.)

 

Die Sache mit der Haltung find ich spannend. Abgesehen von der Fähigkeit, mit Sprache umzugehen und sie nicht nur als Transportmittel zu benutzen, braucht es das: Eine besondere Sicht auf die Welt. Und, was auch erwähnt wurde, die Erzählenergie. Manchmal sieht man, wenn man viel mit Fremdtexten zu tun hat, sprachlich, sagen wir mal, problematische Texte. Voller Fehler. Und die haben dennoch "etwas", vielleicht genau diese Energie. Die AutorInnen gehen anscheinend tiefer, wie es Bettina beschrieben hat, an das, was sie ausmacht und vielleicht nicht so leicht zu erlangen ist, was etwas kostet, was sich von gängigen Weltbildern und vor allem der "Sympathiefrage" entfernt. Und dieses Etwas schlägt sich, glaube ich, relativ früh auch in der Sprache nieder (und zwar trotz aller Fehler). Es ist aber eher eine "Erzählsprache", eben diese Energie des Erzählens. Und, ja, mit Ausschmückungen und Abweichungen.

AutorInnen, die wirklich lesen (und sich auch hier was trauen) können gemeinhin mit Sprache so umgehen, dass man mehr als nur die Energie des Erzählens spürt. (Die jetzt für mich nur ein Anfang wäre. Ist aber nur meine Meinung.) 

Bearbeitet von ClaudiaB

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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Vielen Dank für eure guten Gedanken, auch für den berechtigten Widerspruch! Das hilft mir alles weiter.

 

Ich muss von meiner Seite noch ergänzen, dass ich das Handwerk des Schreibens liebe. Ich lese jedes Buch über das Schreiben, das ich in die Finger kriege, und ich lerne auch sehr viel Gutes übers Erzählen im Kino. (Wenn mich ein Film besonders berührt hat, frage ich mich hinterher: Wie haben die das gemacht?) Bin meiner Auffassung nach bisher gut damit gefahren.

 

Aber vielleicht hat mich gerade deshalb Edgars Einwurf so fasziniert: Weil er in eine völlig andere Richtung geht. Vielleicht muss man ab und zu, wenn man wie ich so stark in Richtung Handwerk geht, an das Spielerische, Freie und Individuelle erinnert werden.

Was hat Putin 1985-1990 in Dresden gemacht? Einige Einblicke und ein Trailer zum aktuellen Roman "Der letzte Auftrag", gedreht vor der ehemaligen KGB-Villa dort.

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Ich halte es schlicht für unmöglich, die eigene Persönlichkeit aus dem Schreiben herauszuhalten. Und wenn sie zuviel durchscheinen, die "persönlichen Ausschweifungen" dann kommt es schnell zu Seelen-Textchen oder moralinsauren Ergüssen oder ernster Literatur. 8-)

Ich gebe Holger Recht: die Prämisse ist für mich ein theoretisches Konstrukt, um seltsame Abgrenzungen vorzunehmen, die für mich nach der altbekannten E/U-Diskussion riechen. 

 

 

"Und zwar zugunsten der Planung, des Handlungsablaufes, der vorab festgelegten Konflikte, zuungunsten der Phantasie".

 

Das sehe ich vollkommen anders. Die literarische Landschaft sprüht vor Genres und Untergenres und neuen Geschichten, Figuren und Erzählstimmen. Die Vielfalt ist geradezu fantastisch, der Fantasie sind  keine Grenzen gesetzt. Aber der Autor sagt ja auch, dass das seine subjektive Wahrnehmung ist, hinter der, das spekuliere ich jetzt mal, eine bestimmte Erwartungshaltung steht: Literatur muss so und so sein, der Autor muss so und so sein und schreiben.

 

Wie gut, dass ich mich nicht daran halten muss und dabei glücklich und zufrieden bin. Ich kann nur immer wieder Voltaire zitieren: Jede Art des Schreiben ist erlaubt - nur nicht die Langweilige.

 

LG

Martin

Bearbeitet von MartinC

_________________________________________________

www.martinconrath.de

Jede Art des Schreibens ist erlaubt - nur nicht die langweilige (Voltaire)

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Erst mal danke, lieber Titus für die weiter gereichten Gedanken deines Lektors.

 

Die einfache, empirische Feststellung über besagte Kluft war mir tatsächlich eine Neuigkeit. Zwar weiß/hört man allerorten, dass bei den Verlagen haufenweise unbrauchbare Manuskripte eingehen, die Erklärung dafür ist naheliegend: Im Unterschied zur Musik (um bei Claudias Analogie zu bleiben) trauen sich viele das Schreiben schnell zu. Den Satz: "Wenn ich Zeit hätte, würde ich auch eine Oper komponieren" habe ich noch nie gehört, das gleiche mit "Roman schreiben" kennen wir alle. Weil jeder schon mal wenigstens eine Mail geschrieben hat (jedoch kein "Alle meine Entchen" komponiert), dazu kommt der Laptop, dann kanns losgehen. Ohne Ahnung vom Handwerk wird mutig geschrieben. Dachte ich.

Aber jetzt heißt es "solide erzählt" – was ist da los? Sind das alles Absolventen von Creative Writing Kursen? Oder lernt man das jetzt in der Schule? Ich wundere mich wirklich.

 

Erst mal bis hierher.

Angelika 

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

www.angelika-jodl.de

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Aber jetzt heißt es "solide erzählt" – was ist da los? Sind das alles Absolventen von Creative Writing Kursen? Oder lernt man das jetzt in der Schule? Ich wundere mich wirklich.

 

 

Hier möchte ich mich, sofern ich sie richtig verstanden habe, Angelika anschließen: Ich höre - aus unterschiedlichen Verlagen und auch von unterschiedlichen Lektoren -, dass die meisten Manuskripte (und selbst u. a. von bekannten Autoren) "ganz schlecht geplottet" sind. 

 

Schöne Grüße,

 

Holger

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Ich finde diese Betrachtung hochinteressant und merke auch, wie da was in meinem tiefsten Inneren "ja, genau" flüstert. Weil es mir als Leser auch oft so geht, dass ich ein Buch in die Hand bekomme, an dem es nichts auszusetzen gibt … aber das mich eben trotzdem kalt lässt. Das mir nicht fehlen würde, gäb’s es nicht.

 

Und erst neulich habe den Gedanken in meinem Tagebuch festgehalten, ob man mit all diesen "Plotstrukturen" das Pferd nicht von hinten her aufzäumt. Ob eine solche Struktur nicht das Ergebnis eines ganz anders verlaufenden, den Eigenheiten der Geschichte und ihrer Figuren folgenden Entwicklungs-, ja Schreibprozesses sein sollte, anstatt eine von vornherein vorgegebene Gußform. Ob man seine Idee nicht vergewaltigt, wenn man fragt, "um Seite 400 herum brauche ich noch einen Wendepunkt, was könnte das sein?"

 

Mir ist noch deutlich das "44-Stunden-Experiment" von Wolfenbüttel in Erinnerung, ganz am Anfang, als wir mit 15 Autoren darüber brüteten, was denn nun in dem innerhalb von 44 Stunden zu schreibenden Roman passieren sollte. Zuerst hatte ich die übliche Drei-Akt-Struktu (die vier Viertel I, IIA, IIB und III) an die Tafel gemalt, wir hirnten und schlugen vor, und es waren nicht mal mehr 43 Stunden übrig und es zeichnete sich nichts ab. Dann sagte ich, "vergessen wir die Struktur, wählen wir lieber erst mal die Figuren aus und überlegen, was wir mit denen anfangen" – und auf einmal sprudelten die Ideen nur so. Das war wirklich eindrucksvoll. Im Nu hatten wir die Handlung für das erste Viertel beisammen und konnten loslegen, und alles weitere ergab sich wie von Zauberhand, inklusive eines Schlusses, den sich so niemand im voraus hätte ausdenken können.

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Bettina_Admin

Ich denke, das Problem der Ausgangsfrage ist, dass sie schwarz-weiß malt. Die Positionierung der beiden Worte „Individualität“ und „Handwerk“ werden durch versus bewertet. So als würde Struktur Individualität ausschließen.  

 

Wer käme auf die Idee, einem Architekten zu sagen: Babe, mach dir keine Sorgen und die Beschaffenheit der Materialien, um die Statik, ist doch egal, wenn später alles zusammenstürzt, mach einfach dein ganz eigenes Ding! Wieso kann ein Archtiekt, der sein Handwerk beherrscht, nicht sein ganz eigenes Ding mit diesem Hintergrundwissen erschaffen? Übersetzt: Wer behauptet, dass die ordnende Hand des Autors (also die Struktur) keinen Platz für das eigene, individuelle Erschaffen lässt?

 

Ich behaupte das nicht, aber der Artikel tut das. Als subjektive Wahrnehmung kann man die Behauptung ja akzeptieren. Als Prämisse hingegen nicht, in diesem Sinne gebe ich Holger und Martin Recht.

 

LG, Bettina

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Wer also die eigene Sicht auf die Welt im allgemeinen und die Romanwelt sowie deren Figuren im spezifischen außen vor lässt, sich nur auf Struktur und Planung verlässt, der läuft Gefahr, einen korrekt geschriebenen Roman zu schreiben. Dem der Funke und das Funkeln fehlt. Das wäre dann tatsächlich gutes Handwerk auf Kosten der Individualität. Gut finde ich hingegen Individualität PLUS Handwerk, nicht versus.

 

Ich lese eure Beiträge fasziniert mit und kann eigentlich nichts Neues hinzufügen. Aber ich denke an die vielen Bücher, die ich schon gelesen habe. Oft habe ich schon auf den ersten Seiten gemerkt, dass dem Roman etwas Wesentliches fehlt. Und habe ihn dann zur Seite gelegt. Oder nach Beendigung eines Romans bald zum nächsten gegriffen, ohne besonders beeindruckt zu sein. Im besten Fall gibt es dieses Aha-Erlebnis am Schluss, irgendwie "wie vom Donner gerührt". Dann rufe ich auch schon mal laut: WOW! An diese Bücher erinnere ich mich noch jahrelang und gebe ihnen einen Extraplatz in meinem Bücherregal. Es ist dieser Funke, vielleicht kann man es auch "Seele" oder "Feuer" nennen, der mich bei der Stange hält. Damit meine ich nicht Ausschmückungen oder Abschweifungen (dabei bin ich schon buchstäblich eingeschlafen), sondern Bücher, die aus diesem Autorenanteil an Erfahrung, Weltsicht, Bildern, sinnlichen Eindrücken und Haltungen bestehen und handwerklich gut gemacht sind.

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Vielleicht muss man ab und zu, wenn man wie ich so stark in Richtung Handwerk geht, an das Spielerische, Freie und Individuelle erinnert werden.

 

Dazu braucht es aber gleich mehrere "Mitwirkende": Zuerst natürlich den Autor, dann ein "wohlwollender" Lektor und, was nicht zu vergessen ist, ein Verlag, der das alles mitmacht und nicht jede Individualität glattbügelt, damit die Geschichte auch ja dem heutigen Lesergeschmack entspricht ... was immer das auch heisst.

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Wer käme auf die Idee, einem Architekten zu sagen: Babe, mach dir keine Sorgen und die Beschaffenheit der Materialien, um die Statik, ist doch egal, wenn später alles zusammenstürzt, mach einfach dein ganz eigenes Ding! Wieso kann ein Archtiekt, der sein Handwerk beherrscht, nicht sein ganz eigenes Ding mit diesem Hintergrundwissen erschaffen? Übersetzt: Wer behauptet, dass die ordnende Hand des Autors (also die Struktur) keinen Platz für das eigene, individuelle Erschaffen lässt?

 

1 ) Der Fotograf Elliott Erwitt sagte einmal " Photography is a craft. Anyone can learn a craft of normal intelligence and application. To take it beyond the craft is something else. That's when magic comes in. And I don't know that there's any explanation for that."

 

Ich denke auch, das gilt für Architektur oder Fotografie ebenso wie fürs Schreiben u. v. m. (Im Ausgangspost ist Elliott Erwitts Gedanke lediglich etwas umständlicher formuliert.)

 

2 ) Im Ausgangspost steht des Weiteren (sinngemäß), dass Verlage früher sehr viele dilettantische ... autobiographische Texte erhalten hätten … und heute viele solide erzählte Manuskripte erhielten, die jedoch nicht mitreißend seien …

 

Tja, woran könnte das wohl liegen?

 

- Zum einen sicher daran, dass heutzutage Literaturagenturen vorab die Manuskriptauswahl treffen und natürlich Dilettantisches aussortieren.

- Zum anderen, dass wir heutzutage zig mal mehr Autoren und Autorinnen haben, die ihr Handwerk beherrschen, routiniert schreiben und mit ihren Manuskripten "auf den Markt drängen" (wie oben geäußert).

 

Im Kern hat sich daher wohl vor allem eines geändert: Das gigantische Manuskriptangebot liefert/e den Verlagen seit Jahren die Munition für einen gigantischen Verdrängungswettbewerb. Der Markt ist hart umkämpft.

 

Liebe Grüße

Ramona

Bearbeitet von Ramona

Inspiration exists, but it has to find us working! (Pablo Picasso)

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Darüber habe ich mir auch schon sehr oft Gedanken gemacht. Mein Gefühl sagt, dass, wenn man eine Geschichte mit Leidenschaft erzählt, nimmt sie den Leser besonders mit. Wenn das Herzblut des Autors drin steckt, wenn er etwas zu erzählen hat, das er unbedingt erzählen will.

Ich glaube, dass viele Romane das nicht haben, weil der Autor alles richtig machen will. Er will eine durchdachte Story erzählen, die keine Logiklücken aufweist und handwerklich nahezu perfekt ist. Dazu kommt bei vielen, dass sie vom Schreiben leben müssen, dass der Verlag oder die Leser bereits auf Nachschub warten, und der Autor somit unter Zugzwang steht und einfach nur liefert, ohne selbst seine "konstruierte" Geschichte zu leben.

Ich finde man merkt das oft bei Debütromanen, dass sie gelebt wurden. Der Autor hatte keinen Druck, sondern konnte schreiben, was ihm auf dem Herzen lag und was einfach aus ihm herauswollte. Und wenn dieser Roman dann beim Verlag landet, hat er bessere Chancen, als ein Roman, der handwerklich und sprachlich zwar sehr gut ist, aber eben nicht diesen Zauber hat.

 

Ich selbst liebe das Schreibhandwerk, habe schon etliche Schreibratgeber verschlungen. Mir ist es wichtig, einen handwerklich guten Plot zu entwerfen, und die Geschichte in einer guten Sprache zu erzählen, die auch melodisch, interessant und einfach ist. Aber ich muss mich immer wieder dazu zwingen, mich in eine Art Trance zu versetzen, um die Szenen auch zu er"leben". Denn das fällt mir von Roman zu Roman schwerer.

Bearbeitet von Sabine
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Ich denke, Struktur sollte ein Roman, besonders ein Genre-Roman, immer haben. Und man sollte auch nur schreiben, was die Geschichte vorantreibt. Aber dazu gehören selbstverständlich auch die nötige Figurentiefe, die Plastizität und Authentizität komplexer Figuren und ihrer Überzeugungen und Motivationen, dazu gehören auch die nötigen Beschreibungen, damit vor dem Auge des Lesers die richtigen Bilder ablaufen. Dazu gehört auch, gewisse Einzelheiten zu erläutern, die für die Geschichte von Bedeutung sind. Und ja, es gehören auch gelegentliche Abstecher dazu, wenn sie helfen, Zeitalter, Situation oder die Figur näherzubringen. Manchmal sieht etwas wie ein unbedeutender Abstecher aus, nur um sich hinterher als wichtiges Detail der Handlung zu entpuppen.

 

Und natürlich eine gute Sprache.

 

Wenn ein Roman trotz gut gefertigtem Plot nicht greift, dann fehlt irgendetwas, wie oben beschrieben. 

Die Montalban-Reihe, Die Normannen-Saga, Die Wikinger-Trilogie, Bucht der Schmuggler, Land im Sturm, Der Attentäter, Die Kinder von Nebra, Die Mission des Kreuzritters, Der Eiserne Herzog, www.ulfschiewe.de

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Ob man Film, Architektur und Musik mit Literatur vergleich kann, zweifle ich an. Insbesondere der Roman bietet doch wesentlich größere Räume für Spiel und Experiment – das macht ihn ja so wunderbar: Nirgendwo kann man mit so vielen Überraschungen rechnen.

 

Welches Gewicht Struktur und Planung gegenüber spontan Innovativem haben sollten, hängt meiner Meinung nach vom Autor ab. Manch eine® fühlt sich vielleicht wohler, wenn er sich an einem Plot orientieren kann, andere zwängt das zu sehr ein. Die Fasson eines jeden ist da wohl sehr wichtig. 

 

Mir persönlich haben zu starre Plots bislang nur Steine in den Weg gelegt. Ich schreibe mindestens ein Jahr lang an einem Roman. Ein Jahr ist eine lange Zeit, in der ich recht viel erlebe. Vieles davon schreibe ich auf und verwende es in meinen Geschichten. Das mag ein Gesicht sein, das ich auf der Straße gesehen habe, und das wunderbar für eine Figur passt. Manchmal ist es eine Geste, ein Dialog. Dann wieder eine ganze Geschichte, die in abgewandelter Form meine Handlung vorantreiben kann. Die Welt ist eine Schatzkiste für Schriftsteller. In dem Moment, in dem ich in recht kurzer Zeit einen kompletten Roman durchplotte, lasse ich zu viele Möglichkeiten ungenutzt. Wie gesagt, ist das nur meine Arbeits- und Lebensweise. 

 

Denn das Schöne ist: Es gibt keine Gesetzmäßigkeit. Und dabei wird es ja hoffentlich auch bleiben.

Sagt Abraham zu Bebraham: Kann ich mal dein Cebraham?

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Darüber habe ich mir auch schon sehr oft Gedanken gemacht. Mein Gefühl sagt, dass, wenn man eine Geschichte mit Leidenschaft erzählt, nimmt sie den Leser besonders mit. Wenn das Herzblut des Autors drin steckt, wenn er etwas zu erzählen hat, das er unbedingt erzählen will.

Ich glaube, dass viele Romane das nicht haben, weil der Autor alles richtig machen will. 

 

Ich glaube, in dieser Richtung ist die Antwort zu finden. Wenn ich z.B. an die Romane von Wolfgang Schorlau denke: An denen ließe sich handwerklich so einiges aussetzen, trotzdem lesen sie sich mitreißend. Warum? Weil man bei diesen Geschichten spürt, dass der Autor mit Leidenschaft bei der Sache ist, dass er, wie man so sagt, "brennt". Man spürt seine Wut auf die Verhältnisse, die er schildert, nein, anklagt. Da ist Herzblut in jeder Zeile, und was sind verglichen damit schon ein paar zweifelhafte Konditionalkonstruktionen?

 

Seltsam, wenn man es recht bedenkt. Denn das heißt ja: Wenn man alles richtig machen will, macht man was falsch …  :-/

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Ich glaube, in dieser Richtung ist die Antwort zu finden. Wenn ich z.B. an die Romane von Wolfgang Schorlau denke: An denen ließe sich handwerklich so einiges aussetzen, trotzdem lesen sie sich mitreißend. Warum? Weil man bei diesen Geschichten spürt, dass der Autor mit Leidenschaft bei der Sache ist, dass er, wie man so sagt, "brennt". Man spürt seine Wut auf die Verhältnisse, die er schildert, nein, anklagt. Da ist Herzblut in jeder Zeile, und was sind verglichen damit schon ein paar zweifelhafte Konditionalkonstruktionen?

 

Seltsam, wenn man es recht bedenkt. Denn das heißt ja: Wenn man alles richtig machen will, macht man was falsch …  :-/

Genau das ist es, was ich denke.

Das ist das Geheimnis eines richtig guten Romans. Aber es ist so schwer das zu schaffen, weil man erst von einem Stoff gefunden werden muss, für den man brennt.

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Vieles von dem, was schon gesagt wurde, unterstütze ich auch ausdrücklich.

 

Grundsätzlich halte ich es aber für einen fragwürdigen Ansatz, Handwerk gegen Individualität auszuspielen. Wenn Autoren sich an durchschnittlichen Modellen festhalten, statt Regeln virtuous zu interpretieren und, wenn nötig, zu durchbrechen, liegt es eben daran, dass sie nur durchschnittliche Autoren sind. Was auch völlig  in Ordnung ist, denn nichts ist schlimmer als Bücher und Autoren, die mehr sein wollen als sie sind. Die besonderen Individuen mit eigenem Ausdruck, eigenem Temperament und eigenem Blick auf die Welt sind eben rar gesät, das waren sie aber schon zu allen Zeiten. Schon immer gab es viel zu viele Salieris und nur wenig Mozart. Aber man braucht trotzdem auch die Salieris, sie erhalten den Betrieb aufrecht. Individualität einzufordern, bedeutet im Übrigen, schon wieder etwas Vermarktbares daraus machen zu wollen. Das Problem sehe ich eher auf der Abnehmerseite: Leider wird Individuelles zu schnell von Verlagen abgebügelt, weil Leser das angeblich nicht goutieren (z. B. unsympathische Helden). Daher möchte ich jedem Lektor, der die Klage führt, es gebe nicht genügend eigenwillige Texte, entgegenrufen: Wer im Glashaus sitzt, sollte lieber nicht mit Steinen werfen.

"Wir sind die Wahrheit", Jugendbuch, Dressler Verlag 2020;  Romane bei FISCHER Scherz: "Die im Dunkeln sieht man nicht"; "Die Nachtigall singt nicht mehr"; "Die Zeit der Jäger"

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Aber das eine schließt doch das andere nicht aus. Wenn ich das Rüstzeug der Dramaturgie und des guten Stils drauf habe, weiß ich doch, was ich tue, wenn ich einen Roman schreibe, der dennoch individuell ist. Und solange ich mir darüber bewusst bin, was ich tue, darf ich die Regeln brechen. Das ist bei jeder Art von Kunst so.

Ich finde, Handwerk lernen und sich einen guten Stil aneigenen ist nicht schwer. Aber dann auch noch etwas Schreiben, was Ausdruck hat, was ein Statement in sich birgt, dass vielen aus dem Herzen spricht. Das ist die Kunst.

 

Was Titus Beitrag, denke ich mal, aussagen will ist eher: Wenn ich die Wahl habe zwischen einem Roman, der leidenschaftlich ist und einem, der handwerklich perfekt ist. Wofür entscheide ich mich?

Aber das schließt nicht aus, dass auch beides möglich ist.

Bearbeitet von Sabine
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Ich habe bei diesen Diskussionen und dem konstruktiven Austausch darüber manchmal das Gefühl, der „Plot“, den der Autor selbst (!) entwirft, mache ihn irgendwie zum Gefangenen und beschneide ihn in der Freiheit der Gestaltung und der Freiheit und seinem Denken. So, als würde man sich aus seinem eigenen Haus ausschließen.

 

Das kommt mir vor wie ein Missverständnis.

Es gibt dramaturgische Gesetzmäßigkeiten, und um dem mal die Starrheit und Bedrohlichkeit zu nehmen, spreche ich von „Kniffen“ oder „Handwerkszeug“. Dieses leitet sich komplett aus unserem Alltag ab bzw. daraus, wie wir selbst Geschichten konsumieren.

Das oben erwähnte Drei-Akt-Schema etwa ist keineswegs etwas, in das man etwas pressen muss, und dann wird es automatisch ein Bestseller (mir ist schon klar, dass Andreas und seine Mitstreiter sich das ach nicht versprochen haben). Das 3-Akt-Schema ist ein Hilfsmittel, wie ein Zollstock, mit dem ich Maß nehme. Maß für etwas Vorhandenes.

Wenn man das Gefühl hat, die Story läuft nicht so gut, wie sie könnte, dann ist das 3–Akt-Schema eines von vielen Hilfsmitteln, mit denen ich meine Figuren und meine Story abklopfen kann.

Ich würde die 3-Akt-Struktur auch nur bedingt für einen Roman als tauglich einstufen. Bei einem 400-Seiten-Roman wäre der erste Akt 100 Seiten lang, bis ein auslösendes Moment stattfindet. Zu lange Exposition, meines Erachtens.

 

Man kann sich auch fragen, ob der Verrat durch die beste Freundin emotionaler ist als durch den Erzfeind. Aus unserem Alltag wissen wir, dass die Verletzungen aus nächster Nähe die schmerzlicheren sind als die von einer Person, von der man ohnehin nichts Gutes erwartet.

Niemand zwingt einen jetzt dazu, den Verrat trotzdem durch den Erzfeind begehen zu lassen. Aber die größere emotionale Wucht generiert der andere Verrat.

Das sind ganz simple Kniffe. Die kann man anwenden oder auch nicht. Damit ist keinerlei Zwang verbunden.

 

Es macht vielleicht auch hinsichtlich einer Figurenentwicklung Sinn sich zu überlegen, wo unsere Hauptfigur am Ende steht. Wenn sie am Anfang nämlich genau so ist wie am Ende, ist sie statisch.

So eine Betrachtung oder so ein Kniff lässt den Autoren ja stets die Wahl, ob sie ihn beherzigen oder sich z. B. auch mal ganz bewusst dagegen entscheiden. Man kann auch auf halber Strecke durchaus bemerken, dass die Entwicklung zwar stattfinden aber in eine andere Richtung gehen soll, weil man beim Schreiben merkt, dass das mehr dem Bedürfnis der Figur entspricht o. ä.

Niemand zwingt einen, gegen unseren Willen, Kurs auf ein Ende zu halten, das wir nicht wollen.

 

Genug der Beispiele. Es gibt Kollegen, die schreiben drauflos und erschaffen wunderbare Geschichten und Figuren. Prima. Ich kann das leider nicht, ich brauche ein grobes Gerüst, das genügen Elastizität und Flexibilität aufweist, um stets den Bedürfnissen meiner Figuren folgen zu können und sich also im Bedarfsfall anpasst. 

 

Ich bin ebenfalls der Meinung, man solle immer mit Leidenschaft schreiben.

Bloß müssen sich dramaturgisches Handwerkszeug und Leidenschaft nicht ausschließen, im vielleicht besten Fall ergänzen sie sich perfekt.

 

Vielleicht lese ich ja Dinge zwischen den Zeilen raus, die da gar nicht sind, Dann vergesst meinen Post bitte.

 

Schöne Grüße,

 

Holger

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Aber das eine schließt doch das andere nicht aus. Wenn ich das Rüstzeug der Dramaturgie und des guten Stils drauf habe, weiß ich doch, was ich tue, wenn ich einen Roman schreibe, der dennoch individuell ist. Und solange ich mir darüber bewusst bin, was ich tue, darf ich die Regeln brechen. Das ist bei jeder Art von Kunst so.

Ich finde, Handwerk lernen und sich einen guten Stil aneigenen ist nicht schwer. Aber dann auch noch etwas Schreiben, was Ausdruck hat, was ein Statement in sich birgt, dass vielen aus dem Herzen spricht. Das ist die Kunst.

 

Was Titus Beitrag, denke ich mal, aussagen will ist eher: Wenn ich die Wahl habe zwischen einem Roman, der leidenschaftlich ist und einem, der handwerklich perfekt ist. Wofür entscheide ich mich?

Aber das schließt nicht aus, dass auch beides möglich ist.

 

Weitgehend einig mit dir, Sabine. Ich würde nur nicht sagen, dass die Kunst ist, etwas zu erschaffen, das vielen aus dem Herzen spricht, sondern vor allem einem: dem Autor. Das ist ja Individualität. Oft bleibt der Autor mit seiner Individualität eher allein. Wenn nicht, hat er Glück gehabt. Aber das sollte nicht die Erwägung seines Denkens und Schreibens sein.

 

Die Frage ist nicht, ob ich etwas handwerklich perfekt oder leidenschaftlich mache, denn das würde bedeuten, das leidenschaftlich ein Widerspruch zu handwerklich perfekt ist. Für mich ist dieser Gegensatz künstlich aufgebaut. Gutes Handwerk macht einen Text immer besser. Immer! Aber was ist gutes Handwerk? Die bestmögliche Lösung für das zu finden, was ich ausdrücken will. Anders gesagt: den Regeln des Stoffes zu folgen. Das kann intuitiv passieren oder mit Überlegung. Diese Regeln überhaupt zu erkennen und dann umzusetzen, macht den Unterschied aus. Die Kunst ist, das angemessene Verhältnis der Form zum Inhalt zu finden, um es mal theoretisch zu sagen. Hinzu kommt noch - entscheidend! - der besondere Blick auf die Welt, die feine Wahrnehmung, die Schlüsse, die daraus gezogen werden. Das Weltbild, das dahinter steht. Darin liegt die Individualität.

 

Was beklagt der Lektor also, wenn er sagt, heute gebe es mehr gut gemachte, aber weniger originelle, individuelle Texte? Ich spitze mal zu und sage böse: Die meisten Leute haben heute nicht mehr zu sagen oder zu erzählen als früher, aber sie sagen und erzählen es besser. Was ich für eine positive Entwicklung halte. Wenn Autoren in vorauseilendem Gehorsam sich individuelles Schreiben (d. h. Denken und Erfinden) verbieten, ernten die Verlage nur, was sie selbst gesät haben. Ich mag es jedenfalls gar nicht, wenn Lektoren, die den Autoren erst das Individuelle austreiben, sich hinterher beklagen, dass es an Individualität mangle.

"Wir sind die Wahrheit", Jugendbuch, Dressler Verlag 2020;  Romane bei FISCHER Scherz: "Die im Dunkeln sieht man nicht"; "Die Nachtigall singt nicht mehr"; "Die Zeit der Jäger"

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