Aus dem Nachbarthread, worin gerade diverse Kühe zum Wasser gehen, hervorgeholt dieses Zitat von Manfred:
Das Gefühl von Zeit wird in der allgemeinen Kognition verarbeitet und ist mit der Bedeutung verbunden. Tempus dagegen bezieht sich auf eine grammatische Form, und die Beziehung zwischen den beiden lässt sich nicht mit Alltagswissen erklären. Die grammatikalisierten Tempusformen, die wir im Deutschen kennen, sind nicht universell, und zeitliche Bezüge können in anderen Sprachen auch ganz anders ausgedrückt werden.
Dazu erst einmal folgende Bestandsaufnahme aus dem Blickwinkel der (Vergleichenden) Sprachwissenschaft:
1. Im Deutschen haben wir, wie allgemein bekannt, sechs so genannte Zeitformen (lateinisch Tempora):
- Präsens
- Präteritum
- Perfekt
- Plusquamperfekt
- Futur I
- Futur II
Darum ranken sich Vorstellungen (die teils auch im Schulunterricht weitergegeben werden) wie: Beim Präsens geht es um die Gegenwart, das Perfekt ist eine "abgeschlossene Vergangenheit", das Präteritum eine "unabgeschlossene".
Normalerweise glaubt man als biederer Muttersprachler auch gern, so wie die deutsche Grammatik die Welt sieht, ginge es irgendwie objektiv zu, die anderen Sprecher der Welt sähen die Dinge wohl ähnlich oder wenn nicht, dann fehlte ihnen etwas.
Beides ist unzutreffend. Denn
2. gibt es neben unserem System der Tempora noch andere, z.B. das der romanischen Sprachen – ich nehme hier beispielhaft das Italienische –, die ihr Zeitengefüge wesentlich differenzierter einteilen in:
- presente
- passato imperfetto
- passato perfetto
- passato remoto
- trapassato promisso
- trapassato remoto
- futuro semplice
- futuro anteriore
Also zwei Formen mehr als die deutsche Sprache haben und das alles noch mit stare + gerundivo mixen können – was insgesamt einen üppigen Strauß an Tempora ergibt.
Slawen wiederum machen es sich – auf den ersten Blick – einfacher, die haben:
- Präsens
- Vergangenheit
- Vergangenheit im Aspekt
- Futur
Ostasiatische Sprachen gehen großenteils noch einfacher vor mit Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft – fertig (mischen das dann aber gern mit komplizierten Höflichkeitsformeln, die sich darin unterscheiden, wer gerade mit wem spricht).
3. Ein erster Schluss daraus: Eine objektive Einteilung der Zeit leistet keine einzige grammatikalische Zeitform. Die haben offenbar andere Aufgaben.
In welche Richtung die Reise gehen könnte, sieht man, wenn man sich so ein Ding wie das deutsche Futur II vornimmt.
Ich weiß noch gut, welch ein Bein sich unsere Grundschullehrerin ausgerissen hat, um irgendwann den Satz an der Tafel stehen zu haben: "Morgen wird die Weihe die Feldmaus gefressen haben." – Die Konstrukte, die bei solchen Bemühungen entstehen, dürfte es in der gesprochenen Wirklichkeit nur selten geben. Was aber nicht bedeutet, dass dieses Futur II nicht auch in unserem Alltag vorkommt. Im Gegenteil wird es gar nicht ungern verwendet, wenn ich mich zum Beispiel frage:
"Wie zum Teufel ist der Manfred denn auf seinen schlauen Gedanken gekommen?" – dann könnte die Antwort lauten:
"Der wird sich wohl schon eine Weile mit solchem Zeug befasst haben."
Die erste Kuh verlässt hiermit die Wasserstelle und gibt den Platz frei für weitere.
Angelika
Bearbeitet von Angelika Jo, 03.11.2017 - 11:57,