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Bettina Wüst

Das Mädchen - Teil 1: Dramaturgie, Setting

Empfohlene Beiträge

Hiermit sind die Unterthemen also eröffnet und wir können loslegen :-). Es gibt keine Reihenfolge, aber ich beginne jetzt einfach mal mit dem ersten Unterbereich.

 

 

Wir alle sprechen ja  immer wieder darüber, wie wichtig die ersten Sätze einer Geschichte sind. Mich hat dieser Anfang sofort gepackt.  Spätestens nach dem 3. Satz war mir klar, dass ich dieses Buch unbedingt lesen muss:

„Schwefelgelb brennt die Sonne, und es regnet Scheisse, doch vom Himmel fällt sie nicht.“

Das hat doch etwas Apokalyptisches, findet ihr nicht? Schwefel, brennen, Scheisse… da schießen mir sofort Assoziationen ins Hirn. Dieser Satz  bietet mir eine Vorschau auf die Welt, in der die – hier noch im Verborgenen agierenden – Figuren leben. Auch das Milieu wird auf der ersten Seite gezeigt.

 

Ich greife jetzt mal weit, weit vor uns springe zum Ende der Geschichte, das an den Anfang wieder anknüpft. Das Mädchen ist nun nicht mehr eingeschlossen, aber Scheisse liegt immer noch in der Luft und sie träumt sich mit absichtlich gebrochenem Arm in die Freiheit.

Was passiert in der Zwischenzeit? Mit welchen Mitteln wird diese Geschichte aufgefächert, wie entwickelt sie sich, wie entwickelt das namenlose Mädchen sich?

 

 

Wenn ich mich recht erinnere, wurde in einem alten thread über die Ziele einer Figur gesprochen und ob das Mädchen überhaupt ein Ziel, im Sinne der Dramaturgie, hat. Ich finde: Ja. Und dieses Ziel wird am Ende des 1. Kapitels auch benannt: „Eigentlich will sie nur davonkommen, und manchmal gelingt es ihr“.

Das klingt ebenso lapidar wie existentiell. Dieses Ziel scheint ab und zu näher zu rücken, um dann wieder unerreichbar zu werden. Einen Schritt voran, 2 Schritte zurück, auf der Stelle treten, so, wie auch die Entwicklung der Figur gezeigt wird.  Und sie entwickelt sich ja durchaus, auch wenn wir es hier nicht mit einer Saulus-Paulus Entwicklung zu tun haben, das fände ich im Rahmen dieser Geschichte auch nicht glaubwürdig. Das Mädchen ist 12, als die Geschichte beginnt, Beginn der Pubertät, sie wehrt sich, rebelliert, sie sucht nach positiven Vorbildern in der Literatur, der Tierwelt, imaginiert Heldenrollen, idyllische Lebensläufe,  versucht sich zu orientieren. Dieser Suche, diesen Fluchtversuchen, realen oder phantasierten, diesem Auf und Ab zwischen Hoffnungslosigkeit, Kämpfen und Träumen (die sie auch immer wieder selbst sabotiert, aber hier sind wir schon mitten in der Diskussion über das Figurenprofil, also bin ich lieber mal stille) über eine bessere Zukunft, folge ich und frage mich, welchen Weg dieses zerrissene Mädchen einschlagen und wo das alles enden wird.

 

Wie seht ihr das mit den Zielen dieser Figur und der Dramaturgie dieser Geschichte?

 

Liebe Grüße

 

Bettina

" Winterschwestern" (AT)
Figuren- und Storypsychologie

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Mich hat der Anfang auch sofort gepackt. Wenn ich meine Gefühle dabei analysiere, so war es, als würde ich einen Unfall beobachten: Man will nicht hinschauen, tut es aber trotzdem. Die Szenen, die ich dabei betrachte, sind wirklich schockierend, ohne gewollt oder aufgesetzt zu sein. Interessant fand ich den Aufbau der Geschichte. Man hört immer wieder, dass am Anfang Fragen aufgeworfen werden sollten, die der Leser unbedingt beantwortet wissen will. In diesem Roman hatte ich für mich keine Fragen entdeckt, die nach einer Beantwortung schrien. Wie gesagt, es war eher wie dieser Unfall, bei dem man einfach hinschauen muss.

 

Zu den Zielen: Ich fand, dass das Mädchen am Anfang (hat sie eigentlich einen Namen? Nein, oder?) eigentlich keine Ziele hat. Sie rebelliert, provoziert, bleibt aber bis zur Hälfte des Romans passiv. Sie lebt von einem Moment zum anderen. In dem Sinne kann ich hier auch keine deutliche Want-Need-Struktur entdecken.

Wie seht ihr das? Ist der Roman nach einer herkömmlichen Struktur, die ihr kennt, aufgebaut?

 

Liebe Grüße,

Olga

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Als erstes: Mich hat der Roman sehr beeindruckt. Nackte, ungeschönte Sprache, sehr distanziert, kaum ein Blick in die Gedankenwelt des Mädchens, kein innerer Monolog. Eine Beschreibung, mehr nicht, umso überraschender. Eine Beschreibung, die Platz zum Nachdenken lässt.

 

Bettina fragte: Wie seht ihr das mit den Zielen dieser Figur und der Dramaturgie dieser Geschichte?

 

Auf mich wirkt die Geschichte wie eine Heldenreise - nur, dass der Held keinen symbolischen Schatz gewinnt. Die Heldenreise scheitert nicht, der Held stirbt nicht. Der Held überlebt. Und ich denke, das war das alleinige Ziel: zu zeigen, wie dieses Mädchen unter den widrigsten Umständen überlebt. Wie es sich entwickelt. Und es wird nichts geschönt. 

Ja, für mich ist diese Geschichte eine Heldenreise. Auch, wenn das Mädchen am Ende der Geschichte, nach fünf Jahren, glaubt, sie habe sich nicht verändert - noch immer hat sie kein Gramm zugelegt, noch immer ist sie Jungfrau. Noch immer träumt sie sich davon.

Aber sie hat sich verändert. Sie hat gelernt, sich durchzukämpfen, auch wenn die Methoden höchst unorthodox und unethisch sind.

 

Olga fragte:

Zu den Zielen: Ich fand, dass das Mädchen am Anfang (hat sie eigentlich einen Namen? Nein, oder?) eigentlich keine Ziele hat. Sie rebelliert, provoziert, bleibt aber bis zur Hälfte des Romans passiv. Sie lebt von einem Moment zum anderen. In dem Sinne kann ich hier auch keine deutliche Want-Need-Struktur entdecken.

 

(sorry, ich krieg das mit den Mehrfachzitaten bestimmt beim nächsten Mal hin)

 

Das Mädchen hat einen Wunsch: der letzte Absatz des ersten Kapitels "Eigentlich will sie nur davonkommen".

. Und sie schafft es: sie will weg von der unberechenbaren und gewalttätigen Mutter. Sie kommt zum Vater, sie haut dort ab, skommt ins Heim, wieder haut sie mehrfach ab, am Schluss ist sie Arbeiterin in der LPG und organisiert sich Freizeit, in dem sie sich den Arm bricht. Am Schluss weiß sie, wie sie davon kommt. Auch, wenn sie sich dessen noch gar nicht bewusst ist und denkt, nichts hätte sich verändert.

 

Was den ersten Satz "Scheiße fliegt durch die Luft" angeht - da bin ich beim ersten Lesen reingefallen und dachte, es wäre nur symbolisch gemeint. Aber so einfach macht es uns die Geschichte nicht. Hier wird in rein beschreibendem Ton eine Realität geschildert, die mir fremd ist. Aber ist kein mitleidheischendes Melodram geworden, und alleine das rechne ich ihr hoch an!!

 

LG Ulrike

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Ganz kurz: mich hatte beim zweiten Lesen der zitierte Satz auch angesprungen, ich habe ihn mir unterstrichen, etwas schamerfüllt, da ich zuerst nur das Widersprüchliche, Schwankende auf faszinierende Weise nicht Zielbewusste an ihr gesehen habe.

„Eigentlich will sie nur davonkommen, und manchmal gelingt es ihr“.

Ja, hier wird ihr Ziel definiert. Vom Erzähler, wie mir scheint. (Hier müssten wir zu Stil etc kommen. Wie ist der Roman erzählt? Wie distanziert? Wodurch entsteht die Distanz? Ist die Distanz denn mit dieser scheinbaren Ziellosigkeit verbunden? Was in dem Roman ist Figurenton, was Erzählstimme?)
Ihr Ziel, das Davonkommen, ist mit einem "eigentlich" und einem "nur" verbunden. Sie selbst durchkreuzt es immer wieder, weil ihre Handlungen nicht zielgerichtet zu sein scheinen, weil sie Haken schlägt, sich widerspricht, sich selbst im Wege ist, sich schrecklich nach Hause sehnt und dann doch nicht dorthin zurückkehrt (so war es, glaube ich, einmal, als sie aus dem Heim abgehauen ist), alles in ihrer Umgebung ist absolut unverlässlich, selbst auf die vielleicht am ehesten als verlässlich erlebten Misshandlungen ist nicht immer Verlass.

Diese Mischung finde ich unglaublich spannend, dadurch entsteht eine spezielle Art von ... ja was ... Empathie? Wirklich? Mir geht es damit ein wenig wie Olga, man schaut entsetzt, aber dennoch fasziniert hin, aus der Distanz. Ich stürze mich nicht sofort in eine "Identifikation" und "fiebere mit der Heldin/Protagonistin mit".

Eine Heldin ist sie schon, allein dadurch, wie sie es immer wieder schafft, für kurze Zeit kein Opfer zu sein, zu entkommen, und - ja- auch Erlittenes weiterzugeben.

Eine Heldenreisenstruktur erkenne ich im Roman nicht, gottseidank, muss ich ehrlich sagen, ich bin immer dankbar für einigermaßen veränderungsresistente Romanfiguren, die nicht dauernd etwas dazulernen, von Mentoren dabei unterstützt oder von Torwächtern daran gehindert werden.
Das heißt natürlich nicht, dass sie sich nicht verändert, da gebe ich Ulrike recht. Nur sind die Veränderungen brüchig, flüchtig, und ruckzuck kann es passieren, dass sie an den Ausgangspunkt zurückkatapultiert wird.

Beim Weiterlesen weicht diese distanzierte Faszination einer immer stärkeren Empathie und auch "Identifikation" (bei mir jedenfalls).

Ich habe nicht den Eindruck, dass sie ganz bewussten Wünschen folgt, beziehungsweise, sie tut es immer nur kurz: weg von der Mutter, unbedingt, hin zum Vater, aber das ist auch schrecklich, zurück zur Mutter, obwohl sie weiß/wissen "müsste", dass es nur noch schlechter wird, ins Heim, vom Heim weg, es scheint eher, als wäre sie getrieben. Und falls "Davonkommen" das Ziel ist, dann ist dies ja auch die einzige Methode ...

(Ich muss noch mal ein bisschen nachlesen, bei mir ist es länger her, und ich will auch noch mal im alten Thread kramen, als mein Leseeindruck ganz frisch war und ich einiges dazu geschrieben habe, in einem Leserundenthread, ich zitiere dann natürlich nur das, was sich ganz unmittelbar auf das Buch bezieht.)

Liebe Grüße

Claudia

 

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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Hallo ihr Lieben,

 

erst einmal nur ganz kurz (wegen Lektorats-Überstunden): Mir geht es wie Olga, ich finde nicht, dass die Hauptfigur ein definierbares Ziel verfolgt. Nicht im Sinne einer Romandramaturgie. Der Satz, den ihr zitiert, Bettina und Ulrike („Eigentlich will sie nur davonkommen, und manchmal gelingt es ihr“), ist mir viel zu diffus, um ein Ziel der Figur darzustellen, und vor allem ist er mir zu negativ und über ihre Umwelt definiert. Sie will irgendwie da raus. Sie weiß, was sie nicht will, aber wohin sie sich bewegen will, weiß sie nicht. Woher auch.

 

Olgas Satz vom Verkehrsunfall trifft es für mich in vieler Hinsicht sehr gut. Nicht nur wegen der Art der Faszination, die das Geschehen ausübt – Identifikation ist bei mir auch nicht im Spiel – sondern auch, weil ich die ganze Zeit den Eindruck habe, dass das Leben der Figur passiert. Ihr zustößt. Sicher, sie reagiert darauf, sie lernt dazu, sie versucht durchaus etwas zu ändern, nimmt das aber oft auch wieder zurück, kopiert die fiesen Verhandlungsmuster ihrer Umgebung … Ihr Handlungsspielraum scheint mir winzig klein verglichen mit der Übermacht der Verhältnisse, mit denen sie irgendwie zurechtkommen muss. Genau das hat mir so gut gefallen. Endlich mal niemand, der über sich hinauswächst und sein Schicksal in die Hand nimmt. (Da geht es mir wie Claudia.) Trotzdem kämpft sie natürlich. Aber - ohne dass ich das jetzt genau fassen könnte – nicht auf eine "romanhafte" Art. Mich hat das auf ähnliche Weise fasziniert, wie mich reale Lebensgeschichten faszinieren. All die Brüche, Widersprüche, Kompromisse, all die Dinge, die man als Außenstehender nicht versteht. Zugleich ist es natürlich ganz klar ein Roman, also sorgfältig komponiert. Dem würde ich gern noch weiter auf die Spur kommen. (Und ich glaube auch, dass die Erzählstimme da eine ganz wesentliche Rolle spielt, die Frage, was uns gesagt wird und was nicht.)

 

So viel erst mal nur von mir, ein bisschen arg wirr, fürchte ich.

 

Herzliche Grüße

 

Barbara

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Ja, hier wird ihr Ziel definiert. Vom Erzähler, wie mir scheint. 

 

Ja, den Eindruck hatte ich auch. Mir ging es dabei so: Es ist in meinen Augen kein Ziel, das aus der Figur heraus kommt. Der Erzähler reflektierte damit eher meine Gedanken: Das Mädchen muss da raus, es muss irgendwie davonkommen. 

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Hallo in die Runde,

 

ich habe hier eine fünfjährige „Momentaufnahme“ aus Rippchens Leben.

Meine Empathie wurde vor allem geweckt, weil ich den Alltag eines Kindes erlebe – mit aller schonungslosen Ehrlichkeit -, das physisch und intellektuell zu klein ist, um sich zu wehren und sich ein besseres Leben, nach dem es sich in jeder Zeile sehnt, aufzubauen.

Wie sehr der Alltag ihr über den ganzen Roman zusetzt, zeigt sich für mich auch in ihren Fluchten in Romanwelten.

 

Rippchen will erst mal nicht untergehen, will überleben, hofft auf ein Morgen, ein Später ein Woanders. Währenddessen stößt ihr das Leben, wie Barbara schreibt, zu. Ich erlebe ein Kind, das von Haus aus weder Liebe noch Anerkennung erhält und später beides nicht oder nur im Ansatz selbst weitergeben kann.

Ihr Ziel zu überleben hat sie erreicht. Aber sie wollte, so verstehe ich Klüssendorf, auch Herrin ihres Lebens sein. Nach ihren Regeln. Das gelingt ihr mehr und mehr, indem sie aus einer passiven Rolle in eine aktive wechselt.

Am Ende hat sie sich ihr Leben erkämpft. Es ist aus meiner Sicht kein schönes, aber es gehört jetzt voll und ganz ihr.

Der Vergleich mit dem "Unfall" von Olga trifft auch recht exakt mein Leseempfinden.

Schöne Grüße,

Holger

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Zuerst: seht mir bitte nach, dass ich eure Sätze nicht zitiere, sondern altmodisch fett markiere. Mein browser stürzt ständig ab, zum wahnsinnig werden, also schreibe ich meinen Senf sicherheitshalber in Word – und ohne Zitierfunktion.

 

Claudia schrieb:

Eine Heldenreisenstruktur erkenne ich im Roman nicht, gottseidank, muss ich ehrlich sagen, ich bin immer dankbar für einigermaßen veränderungsresistente Romanfiguren, die nicht dauernd etwas dazulernen, von Mentoren dabei unterstützt oder von Torwächtern daran gehindert werden.
Das heißt natürlich nicht, dass sie sich nicht verändert, da gebe ich Ulrike recht. Nur sind die Veränderungen brüchig, flüchtig, und ruckzuck kann es passieren, dass sie an den Ausgangspunkt zurückkatapultiert wird.

 

Das sehe ich auch so. Eine Heldenreise kann ich nicht erkennen, obwohl die Figur durchaus etwas Heldenhaftes an sich hat. Sie ist eindeutig ein Opfer, weigert sich aber, diese Rolle anzunehmen. Sie zeigt Zähne, beißt sie zusammen, grinst sich trotzig durch die Misshandlungen. Olga fragte, ob hier die Want-Need Strukturen greifen. Ich frage mich, ob es überhaupt Menschen gibt, egal, ob sie nun real oder literarisch sind, die ohne Want-Need leben? Ich glaube nicht. Alle verfolgen Ziele, auch wenn sie klein oder undramatisch sind, alle haben innere Bedürfnisse, obwohl diese ihnen nicht immer bewusst sind. Unserem Mädchen sind sie nicht bewusst, nicht im klassischen Sinne. Dem Erzähler hingegen schon, wie mir scheint.

Hier kommen ja dann auch die verschiedenen Ansprüche der Literatur ins Spiel. Möchte ich exemplarisch zeigen, welche Handlungsalternativen und Reifemöglichkeiten ein Mensch/eine Figur hat, möchte ich, dass sie diese Möglichkeiten ergreift? Dann müssten ganz eindeutige Want-Need Strukturen her und klassisch würde ich dann dafür sorgen, dass sie sich vom Want zum Need hin entwickelt. Im Falle des Mädchens hätte das z.B. das Ziel sein können, der Mutter zu entkommen und zum Vater zu ziehen, sofern sie ihn denn vorher gekannt hätte. Dieses Ziel ist aber nur eine kurze Zwischenetappe der Figur, sie erlebt etwas, reagiert, und schlussendlich ist der Vater ja auch nicht viel besser als die Mutter, die einzige Person, die ihr ein wenig Fürsorge schenkt, ist die Freundin des Vaters und das ist auch vorbei, als die beiden sich trennen.

 

So klassisch ist diese Geschichte aber nicht gestrickt, sie liest sich eher wie eine Persönlichkeitsstudie. Dann wird die ganze Chose schon diffuser, wenn ich ganz nah an der im Buch gezeigten Realität bleiben will. Das Mädchen ist 12 Jahre alt, ein Kind noch. Woher soll sie wissen, was sie will? Woher soll sie ihre wahren Bedürfnisse kennen? Gibt es in ihrem Umfeld Rollenbeispiele, Menschen, die ein klar erkennbares Ziel verfolgen? Hier wird von Tag zu Tag gelebt, es gilt, diese Tage zu überstehen (interessanterweise ist die Geschichte ja auch im Präsens erzählt).

 

Deswegen gebe ich dir Recht, Claudia. Du hast geschrieben:

 

„Ich habe nicht den Eindruck, dass sie ganz bewussten Wünschen folgt, beziehungsweise, sie tut es immer nur kurz: weg von der Mutter, unbedingt, hin zum Vater, aber das ist auch schrecklich, zurück zur Mutter, obwohl sie weiß/wissen "müsste", dass es nur noch schlechter wird, ins Heim, vom Heim weg, es scheint eher, als wäre sie getrieben.“

 

Und doch ist „davonkommen“ in solch einem feindlichen Umfeld für mich definitiv ein Ziel, auch wenn es diffus ist, immer wieder justiert wird, immer wieder anders ausprobiert wird. Und am Ende erreicht sie doch dieses Ziel, sie spielt nun auch nach eigenen Regeln, auch wenn es kein Happy End gibt.

 

Liebe Grüße

 

Bettina
 

Bearbeitet von Bettina Wüst

" Winterschwestern" (AT)
Figuren- und Storypsychologie

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Noch etwas: Die Fragen, die ihr bezüglich Erzählstimme und Co. gestellt hat, finde ich super. Wollt ihr diese Fragen in den 3. Teil retten, so dass wir uns hier nicht verfranseln?

 

Ich muss euch für heute verlassen, mein Ziel für heute Abend lautet: Tschüss Rechner. Ich gedenke, dieses Ziel zu erreichen :-)

 

LG, Bettina

" Winterschwestern" (AT)
Figuren- und Storypsychologie

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Seht ihr sie wirklich so passiv?

 

Die Geschichte beginnt damit, dass sie den Dreck, in dem sie gezwungenermaßen leben muss, aus dem Haus wirft.

Ich finde nicht, dass das passiv ist. Schließlich macht sie dadurch ihre Umwelt auf sich aufmerksam. Nachbarn rufen nach dem "Abschnittsbevollmächtigten", eine Art Blockwart, wenn ich es richtig weiß.

 

Sie fürchtet nie die Konsequenzen ihrer Taten. Sie hat keine Angst, alleine, wenn man an das Spiel mit dem Rennen auf die Straße denkt. Sie mäandert um den direkten Weg, bleibt stehen, geht zurück. Manchmal treiben die Umstände sie voran, sie reagiert auf Handlungen ihrer Gegnerin (der Mutter) - wie bei ihrem Selbstmordversuch, bei dem sie sich von vornherein klar ist, dass es ein Hilfeschrei ist. Auch hier ist sie die Herrin der Lage, gibt keine Adresse weiter, will nicht zurück.

Sie gibt nicht auf, alleine, wenn ich daran denke, wie sie sich im Heim Autorität verschafft.

 

Diese aktive Haltung ist es wahrscheinlich, die in mir den Gedanken an die Heldenreise weckte.

 

LG Ulrike

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Guten Morgen!

 

Für mich hat die Figur kein Ziel. Sie ist damit beschäftigt, ihr Weiterleben zu organisieren. Dabei muss sie mit einem extrem eng bemessenen Handlungsspielraum vorlieb nehmen. Der Roman hat dadurch etwas Episodisches, ein Road-Movie vielleicht, wobei die "Fahrende" nicht recht vom Fleck kommt. Das Episodische finde ich nicht ganz unproblematisch. Das Interessante am Setting ist für mich, dass Klischeevorstellungen vom Real existierenden Sozialismus brutal zunichte gemacht werden. Solidarität, menschliches Miteinander, Wärme und Heimat in der DDR (als Gegenentwurf zur kapitalistischen "Kälte" des Westens) - das war wohl nichts. Gleichzeitig - und das scheint mir eine erzählerische Leistung der Autorin zu sein, denkt man, dass die selbe Geschichte sich auch in Westdeutschland hätte abspielen können. 

Irgendwie erinnert mich das Buch - der Vergleich ist vielleicht etwas hoch gegriffen - an Woyzeck von Büchner. Auch eine Prekariatsgeschichte, wo ein Unterprivilegierter allerdings an den Verhältnissen zugrunde geht. Auch Woyzeck gelangt zur keiner rechten Entwicklung, wenn man davon absieht, dass er am Ende Züge des Wahns annimmt und zum Messer greift. Wobei das natürlich nicht ganz stimmt, die Figur bei Klüssendorf macht natürlich eine Entwicklung durch, aber sie ist sehr kleine, wie ich finde.

 

Herzlichst

jueb

Bearbeitet von jueb

"Dem von zwei Künstlern geschaffenen Werk wohnt ein Prinzip der Täuschung und Simulation inne."  

AT "Aus Liebe Stahl. Eine Künstlerehe."

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Lieber Jürgen,
 

 

"Für mich hat die Figur kein Ziel. Sie ist damit beschäftigt, ihr Weiterleben zu organisieren."

Heißt das, weil das Leben ihr quasi ein Verhalten auferlegt, ist die Organisation von Weiterleben" in Deinen Augen kein Ziel?


"Das Interessante am Setting ist für mich, dass Klischeevorstellungen vom Real existierenden Sozialismus brutal zunichte gemacht werden. Solidarität, menschliches Miteinander, Wärme und Heimat in der DDR (als Gegenentwurf zur kapitalistischen "Kälte" des Westens) - das war wohl nichts. Gleichzeitig - und das scheint mir eine erzählerische Leistung der Autorin zu sein, denkt man, dass die selbe Geschichte sich auch in Westdeutschland hätte abspielen können."

Das finde ich treffend formuliert. Ja, diese Wirkungen hatte der Roman auf mich auch.

Schönen Sonntag,

Holger

 

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Übrigens: schön, dass du dabei bist, Holger!!!

 

Vielleicht definieren wir "Ziele" sehr unterschiedlich. Ich wollte ja noch einmal  meinen ersten Leseeindruck zitieren, aus einer anderen Leserunde, als es auch um die Ziele von Figuren ging:

 

(Zitat)

Was ich gerade gelesen habe: Mal wieder Musil, die Verwirrungen des Zöglings Törleß, und Angelika Klüssendorf: Das Mädchen.
Beide Figuren sind Heranwachsende und ihre Ziele sind verwaschen. Törleß ist schon im Titel verwirrt, ist passiv, wird anfangs von peinigenden Gedanken heimgesucht, von Leidenschaften hin und her geworfen, reagiert manchmal aktiv, beeinflusst das Geschehen und seine tumberen Konviktsgenossen, reagiert aber auch für sich selbst unvorhersehbar. Das Buch ist eine "Studie" eine Untersuchung eines Geisteszustands im Übergang, darauf habe Musil (heißt es doch, oder?) Wert gelegt, deshalb das Maeterlinkzitat vorne - das ich übrigens grandios finde.
Bei Frau Klüssendorf geht es um ein misshandeltes Mädchen, das keine Ziele hat, nur irgendwie den Tag überleben muss und irrational handelt, zum Teil von ihren Handlungen eine Minute vorher noch nichts weiß. Zum Beispiel lässt sie von einem Moment auf den anderen ihren Bruder, einen Säugling, an dem sie sehr hängt, im Stich, sie macht einen verzweifelten, halbherzigen Selbstmordversuch und erklärt direkt danach, im Krankenhaus, sie wolle nie mehr nach Hause. Die Konsequenz ihres Handelns begreift sie erst viel später, als sie sich nach dem Bruder sehnt, aber auch hier bleibt alles unklar, verwaschen, sie kann sich nicht auf ihre Gefühle, ihre unstete Sehnsucht verlassen, aber sie handelt wieder irrational, kommt vorübergehend ins Gefängnis. Auch dies ist eine Art Studie eines Zustands, bestechend präzise, und obwohl hier nachweislich jegliche Anklänge an Dreiaktmodelle und Heldenreisen fehlen, die Person offensichtlich passiv und getrieben ist, "fiebert man mit", möchte unbedingt wissen, wie es weitergeht.

 

Zitat Ende

 

Hier habe ich sie als "passiv" geschildert. Beim zweiten Lesen ermpfinde ich sie aber nicht mehr als so passiv, sie agiert ja, nur in viele Richtungen gleichzeitig.

Ich glaube, wir kommen dieser passiv/aktiv-Sache näher, wenn wir die Sprache und die Erzählstimme anschauen. (Ich fang gerne an im entsprechenden Thread ... bzw wer immer anfangen will ... ich glaube, es ist gut, wenn wir das parallel angehen!)

 

Es gibt noch ein Zitat, die Ziele betreffend, von "unten", das ich interessant finde, Jueb, darf ich dich evtl auch zitieren?

Liebe Grüße

Claudia

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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Ich zitiere hier nur mal meine (damalige) Reaktion auf Jueb, der die Frage aufgeworfen hatte, ob die Literatur denn auf "realistische" - und damit eben auch nicht so zielgerichtete - Charaktere verzichten kann.
Ich finde nämlich, dass auch dieses Thema hier hineingehört, und es knüpft auch an das an, was Jueb weiter oben schreibt:

 

Zitat

Ich denke, dass Literatur auf keinen Fall darauf verzichten kann, glaube andererseits aber auch, dass wir alle ein Want and Need haben - nur nicht so groß aufgemacht. Es gibt so viele kleine Ziele und Antriebe einer Person/Romanfigur, natürlich auch in den von mir (und von Jueb) genannten Beispielen. Diese Ziele sind unauffälliger, ambivalenter wahrscheinlich, und dennoch so wichtig für die Figur in diesem Moment. Im Roman kann man sich vielleicht erlauben, anders mit diesen Wants und Needs (die doch so wichtige Werkzeuge sind!) umzugehen, freier, großzügiger, wir haben vielleicht einen Erzähler mit eigenen Wants und Needs, der die Geschichte steuert und die Ziele der Figuren für einen Moment aus den Augen lässt.

 

Zitat Ende

 

Ich meinte hier: den Roman oder auch den literarischen Roman, im Gegensatz zum Drama/Film oder sehr straight durchgeplotteten Stoffen.

 

Liebe Grüße

Claudia

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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Ich möchte vorweg festhalten, das mich der Roman sehr beeindruckt.

Einmal als Leser, der diese sprachliche Präzision, die Metaphern etc. sehr schätzt.

Einmal als (Drehbuch-) Autor, der hier feststellt, wie weit ein Leser mitgeht mit einer scheinbar statischen Figur in einer Geschichte, die scheinbar keiner Dramaturgie gehorcht (Ich „fiebere“ nämlich auch mit, die „Unfallsituation“), wenn er Empathie empfindet. Und die stellt Frau Klüssendorf für mich zweifellos über verschiedene Kanäle her.

Ich halte so etwas in seiner vorliegenden Konsequenz für sehr schwer. Daraus resultiert meine Bewunderung.

 

Was das Ziel angeht, so sind auch kleinste und leiseste Ziele für mich dramaturgisch doch auch Ziele, denn es kann und will ja nicht immer die lärmende Geschichte der Weltrettung erzählt werden.

Wer ein Ziel hat, hat entsprechend auch Motivation. Und ohne Bedürfnis kein Ziel.

 

Neben vielen kleinen Launen, Motiven, Zielen, die sich abwechseln, widersprechen usw. usf. – Misshandlung durch Mutter entgehen / Bruder ärgern / Sachen klauen / beliebt sein / Jungs kennenlernen / Lügengebäude erfinden – habe ich regelrecht aufgeatmet, als „Rippchen“ das erste Mal von zu Hause abgehauen ist. Noch mehr, als ihr Vater sie holte oder sie ins Heim kam.

Dieses Hamsterrad aus mütterlichen Grausamkeiten, neuen (betrunkenen) Liebhabern, eigenen Boshaftigkeiten usw. erschien mir wie eine Welt, mit der das Mädchen sich nicht zufrieden geben will. Sie weiß vielleicht nicht, was sie will, aber sie spürt es, denn ihr Handlungen erzählen ja von dieser Sehnsucht. Es sind auch kleine Fluchten, oftmals nicht zielgerichtet, eher ein Ausprobieren, bis ihr dann über viele Umwege die große ins eigene Leben gelingt.

 

Schöne Grüße,

 

Holger

 

PS: @ Claudia: Ja, ich freue mich auch, über Euch diesen Roman entdeckt zu haben.

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"Hamsterrad" für das Leben dieses Mädchens ist sehr treffend formuliert. Ich gestehe, dass ich, immer ungeduldiger werdend, auf etwas dramaturgisch Entscheidendes gewartet habe. Auflehnung gegen die rabiate Mutter zum Beispiel. Gleichzeitig wurde eindringlich dargestellt, dass hier ein Kind versucht, das Leben und sein eigenes Vorankommen irgendwie zu organisieren: mit Ausbrüchen und immer neuen Versuchen, sich zu behaupten. Diese Entwicklung, dieses ständige Hin und Her erzeugte bei mir eine gewisse Hibbeligkeit. Und nach der ziemlich atemlosen Lektüre war ich froh, damit fertig zu sein.    

 

Erst jetzt, nachdem ich auch den Folgeroman gelesen habe, Rippchen ist 18 und nennt sich inzwischen April, sehe ich den Weg des Mädchens, das nun eine junge Frau ist, in einem milderen Licht ... aber das ist schon ein anderer Roman und gehört nicht hierher.

 

Gruß aus Tirol

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Lieber Jürgen,

 

 

"Für mich hat die Figur kein Ziel. Sie ist damit beschäftigt, ihr Weiterleben zu organisieren."

 

Heißt das, weil das Leben ihr quasi ein Verhalten auferlegt, ist die Organisation von Weiterleben" in Deinen Augen kein Ziel?

 

Hallo lieber Holger,

 

wenn du Ziel sehr allgemein fasst, ist das natürlich auch ein Ziel, was unsere Protagonistin im Auge hat. Doch wie uns das hier geschildert oder dargestellt wird, kommt es mir eben eher so vor, dass sich hier ein junger beschädigter Mensch so gut durchs Leben zu wurschteln versucht wie es eben geht, und auch unbewusst einfach versucht, Schmerz zu vermeiden  oder zu vermindern, der einfach aus den aktuellen Umständen, denen er unterworfen ist, jeweils versucht, das beste zu machen. Aber ich erkenne hier kein übergeordnetes Ziel, das mir oft in (Bildungs)Romanen vom Erzähler oft andeutungsweise oder als Plakat hochgehalten wird, und dass dann etwa heißt: der wollte schon immer in die weite Welt! Oder der wollte ein tolle Erfindung machen und und und. Das fehlt hier. Und das hat fast etwas von einem Anti-Bildungsroman. Interessanter finde ich die Frage, die hier ja auch schon aufgeworfen ist, wie aktiv oder passiv ist diese Figur und wann ist sie das.

 

Ich muss sagen, ich bin mit dem Roman nicht recht glücklich geworden, was allerdings andere Gründe hat, über die ich mir noch nicht im Klaren bin, ich hoffe ich komme im Laufe der Leserunde noch darauf... Meine vorläufiges Gefühl: die schnörkellose, sachliche und auch einfache Sprache mit der relativ streng durchgehaltenen Sicht von außen mit dem linearen Ablauf der Ereignisse hat etwas sehr Protokollarisches. Das nüchterne, geraffte Protokoll eines Lebens, das erinnert mich an journalistische Darstellungsformen, stellenweise auch an eine Reportage, Bericht aus dem Prekariat. Ich verstehe schon, was die Autorin damit erreichen will, Distanzierung, Entsentimentalisierung usw. und doch fühle ich mich in diesem Roman - ich kann es nicht besser formulieren - um die großartigen Möglichkeiten die Literatur auch bietet ein bisschen betrogen.

 

Liebe Grüße

jueb

 

PS: Hi Claudia, du kannst mich immer zitieren, es sei denn ich habe etwas Verbrecherisches gesagt. :-)

 

Bearbeitet von jueb

"Dem von zwei Künstlern geschaffenen Werk wohnt ein Prinzip der Täuschung und Simulation inne."  

AT "Aus Liebe Stahl. Eine Künstlerehe."

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"Hamsterrad" für das Leben dieses Mädchens ist sehr treffend formuliert. Ich gestehe, dass ich, immer ungeduldiger werdend, auf etwas dramaturgisch Entscheidendes gewartet habe. Auflehnung gegen die rabiate Mutter zum Beispiel. Gleichzeitig wurde eindringlich dargestellt, dass hier ein Kind versucht, das Leben und sein eigenes Vorankommen irgendwie zu organisieren: mit Ausbrüchen und immer neuen Versuchen, sich zu behaupten. Diese Entwicklung, dieses ständige Hin und Her erzeugte bei mir eine gewisse Hibbeligkeit. Und nach der ziemlich atemlosen Lektüre war ich froh, damit fertig zu sein.    

 

 

Man darf nicht vergessen, dass das Mädchen am Anfang erst 12 ist. Da lehnt man sich nicht direkt auf. Wenn etwas über verwahrloste Kinder und Jugendliche in der Presse steht, dann fällt mir immer auf, dass diese oft nicht die Kraft zum Auflehnen haben. Wer seit Tagen nichts gegessen hat, der steht keinen Streit durch, wie wir ihn vielleicht mit unseren Eltern durchgezogen haben. Besonders beeindruckt hat mich zu diesem Thema "Die Kinder sind tot", eine Doku über eine Mutter, die ihre Kinder verhungern ließ. Mich erschütterte hier neben der Gefühllosigkeit eben auch die Passivität, mit der all das Grauen ertragen wird.

 

Das Mädchen hätte auch nicht gehen können. Sie hätte verhungern können, wie die Kinder aus o.g. Film. Sie hätte tödlich misshandelt werden können. Sie hätte sich umbringen können.

 

Insofern ist ihr Wunsch nach Überleben die entscheidenden Triebfeder dieses Romans, auch wenn sie sich dessen nicht immer bewusst ist.

 

Bei der Frage nach der "dramaturgischen Entscheidung" taucht natürlich auch die Frage auf, inwieweit der Roman autobiographisch ist.

 

Dabei fällt mir ein westdeutsches Pendant ein: "Scherbenpark" von Alina Bronsky. Hier ist die Heldin 17, also so alt wie unser Mädchen am Ende der Geschichte, und wesentlich aktiver, da sie den Mann, der die Familie tyrannisiert, umbringen wird.

 

ich habe in letzter Zeit einige Roman gelesen, in denen es um verwahrloste Kinder geht ("Rabenkinder" von Peter Wawerzinek gehört auch dazu) und gerade wegen der protokollarischen Schreibweise hat mir "Das Mädchen" am besten gefallen.

Alle drei Romane sind zumindestens autobiographisch inspiriert, trotzdem finde ich die Distanz, die Klüssendorf aufbaut, sehr geeignet, um sich dem Thema nähern zu können, ohne den Blick geschockt abwenden zu müssen.

 

LG Ulrike

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Bei der Frage nach der "dramaturgischen Entscheidung" taucht natürlich auch die Frage auf, inwieweit der Roman autobiographisch ist.

 

Hallo Ulrike

 

kurz dazwischen gesprochen: warum ist diese Frage relevant?

 

Ein Punkt, der mir durch dein Posting klar geworden ist: Wie lässt sich einem beschädigten Kind, das ohnehin nahezu sprachlos ist, zumindest aber die eigene Situation gar nicht richtig begreifen, geschweige denn artikulieren kann, eine Stimme geben? Das ist eine unglaublich große, ja heikle Herausforderung, wenn man sich als Autor dieses Thema wählt. Und da ist sicherlich die Entscheidung für eine nüchterne zurückgenommene Sprache eine Möglichkeit.

 

LG

jueb

Bearbeitet von jueb

"Dem von zwei Künstlern geschaffenen Werk wohnt ein Prinzip der Täuschung und Simulation inne."  

AT "Aus Liebe Stahl. Eine Künstlerehe."

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Bei der Frage nach der "dramaturgischen Entscheidung" taucht natürlich auch die Frage auf, inwieweit der Roman autobiographisch ist.

 

Hallo Ulrike

 

kurz dazwischen gesprochen: warum ist diese Frage relevant?

 

Ein Punkt, der mir durch dein Posting klar geworden ist: Wie lässt sich einem beschädigten Kind, das ohnehin nahezu sprachlos ist, zumindest aber die eigene Situation gar nicht richtig begreifen, geschweige denn artikulieren, eine Stimme geben? Das ist eine unglaublich große, ja heikle Herausforderung, wenn man sich als Autor dieses Thema wählt. Und da ist sicherlich die Entscheidung für eine nüchterne zurückgenommene Sprache eine Möglichkeit.

 

LG

jueb

 

Natürlich wird das eigene Erleben durch die Übertragung in den Text zu einer Rohmasse, die bearbeitet wird. 

Aber das eigene Erleben schützt einen guten Autor auch davor, zu stark zu dramatisieren, weil das Wissen darum da ist, was realistisch ist und was nicht - wie zum Beispiel ein Befreiungsschlag, wo keiner möglich wäre. Wo nur jeder, der so ein Grauen nicht miterlebt hat, ihn sich herbeiwünscht. Und vielleicht auch herbeischreibt.

 

Gute Recherche leistet natürlich dasselbe ;)

 

In diesem Text wirkt auf mich alles sehr, sehr realistisch.

 

LG u

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da gebe ich dir unbedingt recht. Der Text wirkt überzeugend realistisch.

"Dem von zwei Künstlern geschaffenen Werk wohnt ein Prinzip der Täuschung und Simulation inne."  

AT "Aus Liebe Stahl. Eine Künstlerehe."

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Das Mädchen hätte auch nicht gehen können. Sie hätte verhungern können, wie die Kinder aus o.g. Film. Sie hätte tödlich misshandelt werden können. Sie hätte sich umbringen können.

 

Insofern ist ihr Wunsch nach Überleben die entscheidenden Triebfeder dieses Romans, auch wenn sie sich dessen nicht immer bewusst ist.

 

Ja, das finde ich richtig und wichtig, wenn wir die Geschichte "realistisch" (natürlich in ihrer künstlerischen Umsetzung) betrachten. Und es fehlt ja gar nicht viel, und das ein oder andere wäre passiert: sie setzt ihr Leben - und das ihres Bruders - bei ihrem Risikospiel mit den Autos ständig aufs Spiel, ist also durchaus drauf und dran, sich umzubringen. Und von der tödlichen Misshandlung sind die Kinder auch nicht allzu weit entfernt. Und so ist der Versuch, dem allen zu entkommen, ohne zu wissen, wohin und wie, wohl auch die Triebfeder. Das sagt uns, glaube ich, jedoch eher die Erzählstimme, deren einzige Möglichkeit es ist, aus der Distanz zu erzählen.

(Keine große Erklärung der Gefühle zB, wenn das Mädchen Erlittenes weitergibt und den Bruder quält, eine erbarmungslos genau beobachtete Beschreibung der Ambivalenz ihrer Gefühle gegenüber dem Bruder bzw den Brüdern, die sich jede Sekunde ändern können)

Beim zweiten Lesen sind mein Mitleid und mein Entsetzen übrigens noch größer als vorher, ebenso meine Bewunderung für diese (gnadenlose und mMn dennoch einzig angebrachte) Form.

 

 

 

Dabei fällt mir ein westdeutsches Pendant ein: "Scherbenpark" von Alina Bronsky. Hier ist die Heldin 17, also so alt wie unser Mädchen am Ende der Geschichte, und wesentlich aktiver, da sie den Mann, der die Familie tyrannisiert, umbringen wird.

 

Scherbenpark erscheint mir dagegen ungleich unglaubwürdiger und - tja, die Heldin, die etwas will und bewirkt - theatralischer (im negativen Sinne.) Ich nehme der Heldin die Geschichte nicht ab, dahinter knirschen - nur meine Meinung- die Scharniere.

 

Die Geschichte dieser Misshandlungen hätte sich auch in Westdeutschland abspielen können, richtig. Aber viele Details finde ich sehr DDR-typisch und zwingend zur Geschichte gehörend, was sich im zweiten Buch, April. deutlicher fortsetzt. (Und, ja, Christine, das sehe ich auch so: Mit "April" ist die Geschichte und Entwicklung erst abgeschlossen, beide Teile ergeben einen Entwicklungsroman, würde ich sagen.)

 

Deutlich ist einerseits die Kontrolle: das Mädchen bekommt eine "Patin" in der Schule - gut gemeint, in der Praxis aber in diesem Fall unmöglich,  da die zugeteilten "Paten" natürlich Kinder sind, die im System hervorragend funktionieren.

"Abschnittsbevollmächtigte" mischen sich ein oder drohen sich einzumischen. Die funktionierenden Familien erscheinen bzw die gesamte Umgebung erscheint spießiger, einheitlicher, es gibt keine Heterogenität oder fließende Grenzen. Nur einige Menschen, die über sich hinauswachsen oder freundlich sind, das ist etwas anderes.

Im Westen, zur gleichen Zeit, gab es diese Strukturen sicher auch, aber ebenfalls eine große Gegenbewegung. Gerade, was die Heimerziehung betraf, gab es in den siebziger Jahren mächtige, wirklich revolutionäre Strömungen und auch Aktionen.

 

Ich kenne auch eine andere literarisierte Heimgeschichte aus der DDR, die in einigem dieser Beschreibung ähnelt. Auch in der nüchternen, treffenden und beeindruckenden Betrachtungsweise. (Eins meiner Lieblingsbücher meiner Kindheit, ich bin mit DDR-Literatur aufgewachsen und musste Hanni und Nanni etc nachholen.) Eine ganz eigene Kunstform, diese spröde, scheinbar die Ereignisse protokolliernede, aber trotzdem -Jueb!! - narrative Art der Beschreibung: das ist eine Geschichte, kein Protokoll.

Und auch in dieser anderen Geschichte (in "vierzehn Rosen", aus den Siebzigern, sehr lesenswert!) spürt man dieses Außenseitertum, schon in der Sprache, als lebte die Figur auf einem anderen Planeten.

 

Liebe Grüße

Claudia

Bearbeitet von ClaudiaB

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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Schön so viele interessante Beiträge!

 

Zunächst mal von mir: Mir gefällt das Buch sehr gut. Inhaltlich wie sprachlich hat es eine innere Spannung und dabei eine Unaufgeregtheit, die ich fast schon "klassisch" nennen würde. Gerade diese Unaufgeregtheit bei einem Thema bzw. Setting, bei dem die sentimentalen Fallstricke allgegenwärtig sind, gefällt mir sehr.

 

Zu der Frage, ob das Mädchen ein Ziel hat: Ich glaube schon, dass sie auch im dramaturgischen Sinne ein Ziel hat, das ihr auch mehr oder weniger bewusst ist. Sie will meines Erachtens Anerkennung oder psychologischer gesprochen: ein positives Selbstwertgefühl. Daraus entstehen alle Konflikte, bis in die Seele des Mädchens hinein. Sie mag sich selbst nicht, beschreibt sich als hässlich. Ich sehe z. B. auch ihr Klauen in diesem Zusammenhang. Sie will etwas Schönes, sie will etwas für sich, das ihr das Gefühl gibt, etwas wert zu sein. Oder das sie jemandem schenken kann, um von diesem gemocht zu werden.

 

Man könnte die Geschichte natürlich als Kritik an der DDR lesen, denn in einem kollektivistischen System zählt der einzelne wenig. Ich finde es aber wohltuend, dass der Text diese Lesart nicht zwingend vorgibt. Eigentlich zeigt er nur die Vereinsamung eines Kindes aus schwierigen Verhältnissen unter den Bedingungen der DDR. Es könnte aber überall spielen, halt dann unter etwas anderen Bedingungen, im Kern aber wohl genauso. Es ist auch nicht von Beginn an klar, dass die Geschichte in der DDR spielt. Die Hinweise werden eher beiläufig gegeben, was mir gut gefällt.

 

So viel in aller Kürze von mir, als mein Leseeindruck.

 

Andreas

"Wir sind die Wahrheit", Jugendbuch, Dressler Verlag 2020;  Romane bei FISCHER Scherz: "Die im Dunkeln sieht man nicht"; "Die Nachtigall singt nicht mehr"; "Die Zeit der Jäger"

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"Scherbenpark" habe ich auch gelesen, aber für mich war es mehr ein Unterhaltungsroman. Ich fand nicht, dass die Geschichte sich wirklich mit den Problemen der Ghetto-Kinder auseinandersetzt. "Das Mädchen" liest sich ganz anders. 

Als Kritik an der DDR habe ich den Roman aber nicht gelesen. Ich glaube nämlich, diese Situation hätte sich überall ereignen können. Wie oft haben wir schon in den Zeitungen gehabt, dass Kinder von ihren Eltern zu Tode gequält wurden.

 

Daher habe ich mir überlegt: Wie wichtig ist das DDR-Setting für diese Geschichte?

 

Liebe Grüße,

Olga

Bearbeitet von Olga
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