Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal einen Science-Fiction gelesen habe. Wahrscheinlich in meiner Jugend, da waren es die zumeist klug gemachten SF-Romane oder -Kurzgeschichten russischer Autoren. Vielleicht noch H. G. Wells und Jules Verne.
Deshalb bin ich sehr glücklich, Sylvia Kamls "Predyl" entdeckt zu haben, erschienen im Hybrid-Verlag:
Nachdem die Menschheit es geschafft hat, die Erde unbewohnbar zu machen, suchen Raumschiffe mit Kolonialisten nach einem neuen Zuhause – und finden es auf dem Mond Predyl. Doch hier lebt bereits eine Spezies, deutlich mehr im Einklang mit der Natur und auf eine ganz andere Weise klug als die Menschen. Schließlich kommt es zum Krieg zwischen Menschen und Predylern – doch als er endlich endet, gehen die grausamen Konflikte zwischen Überlegenen und Unterworfenen auf einer anderen Ebene unvermindert weiter. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich nun Sylvia Kamls Geschichte um eine junge Menschenfrau und einen jungen Predyler, die sich zusammentun, um beide Völker zu vereinen.
Es schmerzt fast ein wenig, diesen tollen Roman als Science-Fiction zu bezeichnen, weil manche Leser von diesem Genre vielleicht eine falsche Vorstellung haben. Vom Piu-Piu irgendwelcher Laserschlachten ist die Geschichte jedenfalls sehr weit entfernt. Das Buch ist viel mehr. Es wirft Fragen auf. Was ist Menschlichkeit, wo stößt sie an ihre Grenzen, und lassen diese Grenzen sich überwinden? Welche Entscheidungen sind klug, und wohin führen sie am Ende? Wie würden Menschen, mit einer anderen Spezies konfrontiert, agieren? Können sie in Einklang mit ihr leben? Wo entstehen Konflikte? Verfallen die Menschen wieder in alte Muster? Werden sie nach der Zerstörung der Erde dazugelernt haben? Man muss beim Lesen von „Predyl“ oft an die Europäer denken und daran, mit welchen Mitteln sie sich die halbe Erdkugel einverleibt haben: Amerika, Australien, Afrika, samt ihrer ursprünglichen und vermeintlich weniger entwickelten Bewohner. Und es gibt dezent gesetzte Anklänge an Historisches: Wenn die Sieger die Besiegten in Güterwagen abtransportieren lassen, weckt das grausame Assoziationen. All dies ist aber keine abstrakte Gesellschaftstheorie, sondern immer heruntergebrochen und sehr dicht dran am ganz persönlichen Schicksal der beiden Hauptdarsteller Luna und Biran.
Überhaupt, die Details! Es ist beeindruckend, wie die Autorin immer wieder und fast nebenbei Informationen über die Predyler einstreut: über ihr ungewöhnliches Aussehen und ihre über Worte weit hinausreichende Art zu kommunizieren, über ihren Alltag und ihre Architektur, über die Bedeutung von Gesten und Farben, über ihre Art zu denken und so auch Werte wie Respekt, Liebe oder Sexualität deutlich anders zu definieren als die Menschen. Dadurch ergibt sich nach und nach ein sehr faszinierender und ganz eigener Kosmos. Dieser und die eingedrungenen Menschen bilden eine Welt, deren beide Spezies sich nicht eindeutig in die Guten und die Bösen unterteilen lassen, und eben diese Ambivalenz macht vieles unberechenbar und überraschend. Bis zum Schluss übrigens, denn von den ersten Seiten bis zum Ende lassen die Geschehnisse mit all ihren Wendungen einen nicht mehr los. Der Untertitel („Eine neue Welt“) bekommt im Laufe dieses klugen Romans mehrmals eine neue Bedeutung, und man fiebert mit den beiden Hauptdarstellern mit, in welcher Art von Welt sie denn am Ende leben werden.
Ein sehr lesenswertes Buch, das einen auch über unsere eigene, reale Menschheit nachdenken lässt. Eine kluge und emotionsreiche Geschichte, geschrieben mit großem Fantasiereichtum und einem tollen Blick für Details!
Andrea Rings stellt den Roman und seine Autorin übrigens auf ihrem Kanal Autoren Dingsda vor.
Bearbeitet von AndreasS, 04.12.2017 - 18:44,